Flankiert von Petra Schneider (links) und Franziska Deufel entführt der Schauspieler sein Publikum in eine exotische Welt voller Überraschungen. Quelle: Unbekannt

Von Alexander Maier

Man könnte es sich einfach machen und H. G. Wells’ „Land der Blinden“ nur als die Geschichte eines Mannes lesen, der in ein abgelegenes Tal in den Anden kommt und dort auf eine Ansiedlung von Menschen stößt, von denen keiner mehr sein Augenlicht besitzt und fehlendes Sehvermögen nicht mal mehr als Manko empfindet. Man kann diese Erzählung aber auch als Lehrstück für den Umgang der Menschen mit dem Fremden und Ungewohnten verstehen. So mag auch der Schauspieler Gerhard Polacek Wells’ Text verstanden haben, der vor mehr als 100 Jahren veröffentlicht wurde und der bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat. Wer die Worte des britischen Autors ernst nimmt, muss auch die eigene Toleranz und Offenheit auf den Prüfstand stellen. Und so wurde die jüngste Veranstaltung der Reihe „Erlesene Orte“, die von der Stadtbücherei und der Eßlinger Zeitung gemeinsam konzipiert und organisiert wird, zum besonderen Erlebnis. Das war nicht zuletzt dem Veranstaltungsort geschuldet: Fürs literaturbegeisterte Publikum bot das Berberdorf einen Resonanzkörper, der H. G. Wells’ Worte noch weitaus intensiver wirken ließ.

Schritt für Schritt zum Hoffnungsort

Tag für Tag fahren tausende Esslinger am Berberdorf vorbei, doch nur die wenigsten können sich ein realistisches Bild vom Leben in der Hüttensiedlung machen. Unterhalb der Vogelsangbrücke hat die Evangelische Gesellschaft dieses einmalige Projekt für Menschen in akuter Wohnungsnot geschaffen - als einen „Hoffnungsort der besonderen Art“ für bis zu 25 Männer und Frauen. Als Ort der Kultur hat die Siedlung bislang weniger auf sich aufmerksam gemacht. Umso reizvoller fanden Iris Maier-Strecker und Michael Blumenstock von der Evangelischen Gesellschaft den Gedanken, das Berberdorf für einen Abend zum „erlesenen Ort“ zu machen. Denn die gemeinsame Veranstaltungsreihe von Bücherei und EZ sucht nicht nur nach reizvollen Kulissen: Für jeden Ort wählt Gerhard Polacek die passenden Texte aus - und jeder Ort wird unverzichtbarer Teil der jeweiligen Inszenierung. Das begann diesmal schon mit dem Fußmarsch zum Berberdorf, der über Wege führte, die wohl die meisten Esslinger noch nie gegangen sind.

Weil Wells von einem „Land der Blinden“ erzählt, sollte das Publikum entsprechend sensibilisiert der Lesung lauschen: Barbara Antonin vom Verein „aus:sicht“ und ihre Dunkelrestaurant-Mitarbeiter Klaus Zwanzig, Franziska Deufel und Petra Schneider geleiteten die Gäste zu ihren Plätzen und versorgten jeden mit einer Vespertüte - immerhin war der Fußmarsch vom Pliensauturm zum Berberdorf ganz schön weit. Doch die Anstrengung war rasch vergessen, als Gerhard Polacek zu lesen begann. Im Handumdrehen fühlten sich seine Zuhörer wie in jener fernen Welt, in die sich Wells’ Protagonist, der Bergsteiger Nunez, so unverhofft hineinversetzt sieht.

Vor langer Zeit waren die Menschen, die dort lebten, durch einen Erdrutsch von der Außenwelt abgeschnitten worden. Nach und nach sind alle erblindet - seit 15 Generationen gibt es in diesem Tal niemanden mehr, der noch sein Augenlicht besäße. Und damit ist auch jede Erinnerung ausgelöscht, was es heißt, sehen zu können. Nunez glaubt sich den Menschen dort haushoch überlegen, und dieses Gefühl der Überlegenheit lässt ihn übermütig werden: Er glaubt, die anderen erst belehren und dann beherrschen zu können. Doch er muss schmerzlich erfahren, dass die Blindheit ihre anderen Sinne so weit gestärkt hat, dass sie ihm zumindest ebenbürtig sind. Und weil keiner mit seiner Andersartigkeit umzugehen weiß, hält man ihn für geistig umnachtet und lässt ihn nur noch niedrigste Arbeiten erledigen. Nunez will aufbegehren, weil er sich an den alten Spruch erinnert, der Einäugige sei unter den Blinden König. Doch seine kleine Revolte scheitert kläglich. Und als er sich in eine junge Frau verliebt, die er jedoch nicht heiraten darf, weil er ganz anders ist als die anderen, erwägt er sogar, freiwillig auf sein Augenlicht zu verzichten. Schließlich verdanken wir Saint-Exupérys „Kleinem Prinzen“ die Erkenntnis: „Man sieht nur mit dem Herzen gut.“

Reggae-Daddy genießt die Kultur

Wells’ Text ist nicht gerade leicht verdaulich, doch Polacek verstand es, die Geschichte vom Sehenden im Land der Blinden feinsinnig zu interpretieren. Und mancher Gast mag etwas nachdenklicher nach Hause gegangen sein, schließlich wird man auch hierzulande immer wieder mit der Frage konfrontiert, wie man dem Fremden begegnet. Unter den Zuhörern waren auch einige Bewohner des Berberdorfs, für die der Abend ein ungewohntes Erlebnis brachte - und ein Stück Normalität: Warum sollte nicht auch ein Hüttendorf für Menschen in akuter Wohnungsnot zum Ort der Kultur werden? Für „Reggae-Daddy“, einen der Bewohner des Berberdorfs, ist das keine Frage: „Ich fand den Abend toll und hätte nichts dagegen, wenn wir hier etwas mehr Kultur erleben könnten.“