Von Dietholf Zerweck

Stuttgart - Rafal Blechacz ist nicht der Tastendonnerer, der im Augenblick des Platznehmens auf dem Klavierhocker sofort loslegt. Der sensible Pole sitzt zu Beginn seines Recitals im Stuttgarter Beethovensaal vor Johann Sebastian Bachs späten vier Duetten aus dem dritten Teil der „Clavierübung“ einen langen Augenblick bewegungslos, vor dem Kopfsatz von Beethovens früher C-Dur-Sonate faltet er die Hände im Schoß wie zum Gebet. Überhaupt ist auch Blechacz’ äußerer Habitus für Pianisten seiner Generation - er ist jetzt 32 - selten: Im traditionellen Frack wirkt seine schlanke Figur konservativ, manche Zuhörer finden auch sein Spiel, so kann man in der Pause hören, zu schulmäßig brav. Doch das wird ihm keineswegs gerecht. Nicht nur sein wie aufgezogener, rascher Gang zum Steinway in der Mitte der breiten Bühne ähnelt dem des großen Grigory Sokolov. Klangsinn, Genauigkeit, individueller Gestaltungswille bei sorgfältiger Werkkenntnis sind hörbar und werden sich mit zunehmender Reife weiterentwickeln.

Bachs „Duette“ in aufsteigender Tonfolge von e-Moll über F-Dur und G-Dur zu a-Moll gehören zum Typus der zweistimmigen Inventionen, sind jedoch in ihrer Anlage weitaus komplexer. Rafal Blechacz versteht sie als Charakterstücke, ihre lineare Polyphonie dynamisiert er in behutsam abgestimmter Tempogestaltung und Phrasierung. Eine aufsteigende Skala in der rechten Hand wird crescendiert, eine Dreiklang-Wiederholung in der linken beschleunigt. Der Kontrast von Kantabilität und Abstraktion zwischen den beiden letzten Duetten ist präzise herausgearbeitet.

Beim folgenden G-Dur-Rondo von Beethoven zeichnet Blechacz das heitere Figurenspiel mit klarem, differenziertem Anschlag, das Andante cantabile e grazioso ist beseelt artikuliert. In der Beethovens Sonate Opus 2, Nr. 3 sind die verschiedenen Themen mustergültig herausgearbeitet, im Kopfsatz werden die Kontraste und Übergänge zu den vollgriffigen Oktaven-Passagen mit mitreißendem Drive gestaltet. Voller Spannung entwickelt sich das Adagio zwischen schwebenden Legato-Achteln und markant forcierten Gegensynkopen, im Finale porträtiert Blechacz den Feuerkopf Beethoven mit Bravour.

Seltsam, wie verhalten dann Frédéric Chopins Fantasie f-Moll nach der Pause einsetzt: das absteigende, wiederholte Grave-Motiv tönt etwas flach, bei diesem Stück vermisst man die Leidenschaft, zu der der Pianist hier offenbar keinen Zugang findet. Statt dramatisch-rhapsodischer Einheit zerfällt das Werk in viele Einzelmomente, beim folgenden Nocturne fis-Moll aus Opus 48 betont Blechacz die intime Melancholie im Ausdruck. Merkwürdigerweise nimmt er sie als eine Art Präludium zu Chopins b-Moll-Sonate, ohne Pause leitet er mit dem markanten, in die Tiefe lotenden Sext-Sprung über zum Gefühlssturm des Agitato-Satzes, dem wilden, Totentanz-ähnlichen Scherzo, der hallenden Klage des Trauermarsches. Blechacz zeigt dieses Werk in großen Zusammenhängen und überzeugend entfalteten Proportionen, das finale Presto huscht geisterhaft vorüber. Nach dieser hoch differenzierten Interpretation war Busonis Version von Bachs Choralvorspiel „Jesu bleibet meine Freude“ nicht mehr als ein stimmungsvolles Advents-Bonbon für die Zuhörer.