Mit viel Ausdruck auf dem Weg vom Sklavendienst zur Befreiung: Szene aus „The Last Resource“. Foto: Simon Wachter Quelle: Unbekannt

Von Angela Reinhardt

Stuttgart -Mit einer Überdosis Arbeiter- und Bauernstaat begann die zweite Woche des Colours-Festivals im Theaterhaus: „Los Hijos del Director“ sind eine der eher noch seltenen zeitgenössischen Tanzkompanien aus Kuba. Dort hat man in den strammen Nachkriegstagen das klassische Ballett sowjetischer Bauart derart perfektioniert, dass die Insel heute die halbe Welt mit superb ausgebildeten Virtuosen versorgt. Auch die sechs „Kinder des Direktors“, wie der Name übersetzt lautet, haben diese lauernde Glut im Körper, bewegen sich nicht so glatt und fließend wie die modernen Tänzer Europas, sondern gespannt wie Flitzebogen.

Was ihnen ihr Chef und Choreograf George Céspedes in „The Last Resource“ verordnet hat, wirkt auf Dauer arg vorwurfsvoll, so viele nachdrückliche Blicke werfen die Tänzer ins Publikum. Die Tanzbrigade trägt Kosaken-Latzhosen in Arbeiterblau, innen blitzt sozialistisches Rot hervor, Stiefel und eine Art Schutzhandschuhe komplettieren das martialische Outfit. Von den maschinenartigen Arbeitsbewegungen des Anfangs - wir sehen imaginäre Räder, Hebel, Gewerke - befreien sie sich nach und nach, die Solos werden inniger und emotionaler, die Wut weicht Trauer, die elektronischen Rhythmen werden zu Liebesliedern. Bei aller Musikalität wabert ein Hauch zu viel Pathos um diesen Weg vom Sklavendienst zur Befreiung - aber mit welcher Glut, was welcher Intensität versenken sich diese Tänzer in ihr Anliegen! Noch am Schluss verbeugen sie sich derart tiefernst, als würden sie sich im Trauerjahr für Fidel Castro befinden.

Böse Satire auf Integration

Das krasse Gegenteil, einen ganz herrlichen Sarkasmus, brachte der Israeli Hillel Kogan in „We love Arabs“ mit, eigentlich ein Monolog mit Tanz und eine böse Satire auf Integration, die israelisch-arabische Koexistenz, auf den modernen Tanz und seine Schöpfer. Im engagierten Tonfall eines von seiner Genialität und Güte überzeugten Künstlers, mit einer subtilen Sprache der Hände, studierte Kogan ein Tanzstück mit Adi Boutrous ein, einem überaus geduldigen Israeli arabischer Herkunft. Virtuos balancierte Kogans Geplapper auf der Messerschneide der Political Correctness, mit Anlauf sprang das Gutmenschen-Alter-Ego des Choreografen in die Fettnäpfchen der israelisch-arabischen Zusammenarbeit. In seiner Begeisterung für sich selbst wurde er immer herablassender und nervtötender; der bewundernswerte Araber erlaubte sich hier und da ein Grinsen, oft wähnte man sich bei Ephraim Kishon. Der Choreograf als philosophisch verklärte Labertasche - das hatte mitunter die Sprengkraft, die ganze Profession ins Lächerliche zu ziehen - was für eine mutige Reflexion.

Dass der getanzte Dialog funktionieren kann, das beweist nicht nur das gesamte Colours-Festival, sondern das zeigten voll Poesie und mit faszinierender Tanztechnik die Spanierin Rocío Molina und Honji Wang, eine Deutsche mit koreanischen Wurzeln und Arbeitsplatz in Frankreich. Geradezu exemplarisch, dabei in kraftvolle, mystische Bilder gefasst, zeigte ihr „Felahikum“ das Kennenlernen, Aufeinandereinlassen und Einanderverstehen aus der reinen Bewegung heraus, ohne jedes Wort: hier die grandiose Flamenco-Virtuosin mit ihrer offenen Neugier aufs zeitgenössische Idiom, dort die gewandte Hip-Hopperin mit ihrer Grundierung der asiatischen Kampf- und Bewegungskünste. Hier Staccato und dort Geschmeidigkeit, hier Ausrufezeichen aus dezidierten Rhythmen und dort Fragezeichen aus gedrehten Schrauben: was für ein spannender Dialog, wenn zwei große Könnerinnen ihres Genres so vollkommen offen für das Andere sind. Was wir im Vergleich zu ähnlichen Fusion-Wagnissen von Israel Galván oder Akram Khan auch lernen konnten: Frauen führen solche Dialoge viel freier.

Nach so vielen Experimenten war das dreitägige Gastspiel des Zürcher Balletts als ein Höhepunkt des Festivals gedacht - und der wirkte dann fast ein wenig trocken in seiner modern verbrämten Restklassizität. Christian Spuck hatte seine Version von Prokofjews „Romeo und Julia“ für den völlig ausgekernten großen Saal adaptiert, wo die rückwärtige Fensterfront als Bühnenbild erstaunlich gut passte. Getanzt wurde fast in der Premierenbesetzung von 2012, in einer kollektiven Anstrengung vermieden die Stuttgarter Zuschauer den Vergleich mit Crankos Version und feierten den Abend als ein Wiedersehen mit dem ehemaligen Ballett-Hauschoreografen und den Ersten Solisten, die er damals mitgenommen hatte: Katja Wünsche, noch immer eine wahrhaftige und mädchenhafte Tänzerin, sowie William Moore, eines der verlorenen Kinder Reid Andersons, damals auf dem Weg zum Ausnahmetänzer, wo er nicht angekommen ist. Auch Tars Vandebeek, ehemals bei Gauthier Dance, wurde bejubelt.

Haben wir Christian Spucks Handschrift seit fünf Jahren wirklich vermisst? Vielleicht die raffiniert aus Barock und Moderne gemischten Kostümen Emma Ryotts, aber nicht das immer wieder auf sich selbst zurückgeworfene Schrittvokabular, die Vorhersehbarkeit der Ensembles, die allzu sparsame Charakterisierung der Figuren. Freuen wir uns auf die Wiederaufnahme seiner „Lulu“ beim Stuttgarter Ballett in der nächsten Spielzeit, wo Spucks Stil wesentlich persönlicher und prägnanter zum Einsatz kommt.

„Romeo und Julia“ wird noch einmal am heutigen Samstag (19 Uhr) aufgeführt.