Der Prophet (Paul Grill, unten) wird aus dem Jaucheloch gezerrt, oben setzt die lauernde Salome (Julischka Eichel) zum Sprung an. Foto: Birgit Hupfeld - Birgit Hupfeld

Sebastian Baumgarten inszeniert „Salome“ nach Oscar Wilde am Stuttgarter Staatsschauspiel.

StuttgartEine sehr ferne Geschichte mit hoher Sexismus-Dosierung, die in mythische Frauenhass-Abgründe hinabschürft und eine sehr vergangene Ambivalenz des Weiblichen zutage fördert. Vamp und Jungfrau, Hure und Heilige, Vernichterin und Erlöserin, Verruchte und Verklärte – das sind so die Alternativen, die zum Wesen des Weibs verschmolzen wurden, als es großmäuligen Angsthasenmännern noch grauste vorm Rätselwesen Frau, die vor allem eines war: Symbol statt bürgerliches Subjekt. Symbol für abgründiges Begehren, Kastrationsangst und anderes, was das Männlein umtreibt. Diese Zeit der Lulus und Salomes, der im Grunde asexuellen und identitätslosen Objekte tödlicher Begierde, ist gerade mal gut 100 Jahre her. Dass sie fern wirkt, im Fall von Oscar Wildes „Salome“ von 1891 ferner als die Zeit der Handlung vor über 2000 Jahren im biblischen Judäa, liegt an einer besonderen Pointe: dem Ästhetizismus. Die Geschichte von der Hinrichtung Johannes des Täufers ist in der Bibel eine Intrige der Politik und der politisch aufgeladenen Religion, bei Wilde aber ein Gefäß für die Leitmotive der Décadence: Schwächelnde Macht-Männer opfern ihrer Begierde allzu vollmundige Versprechen, fatale Frauen nehmen sie beim verheerenden Wort.

Schönheit der Vernichtung

So prostituiert sich Salome im berühmten Striptease-Tanz vor Herrscher Herodes und ertrotzt dafür das Haupt des Täufers, des unerreichbaren, im Jaucheloch eingesperrten Asketen; des einzigen Mannes, den sie liebt, gerade weil er sie abweist, schmäht, verdammt. Denn damit befreit er sie, die es vor Männerkörpern ekelt, von der Zurichtung zum Sex-Objekt. Womit das Klischee der Hure als Heilige bedient, doch nicht mehr in höherer Moral aufgehoben wäre. Sondern eben in einem Ästhetizismus, der das Schöne vom Guten und Wahren trennt zu einer sich selbst verherrlichenden Ästhetik des Schocks, der Perversion, des Grauens, der Schönheit der grauenhaften Vernichtung. Salome passiert die Stationen des Liebesmords, der Nekrophilie mit Beißküssen ins tote Haupt, der eigenen Auslöschung. Unter den Schildern der Soldaten des Herodes wird sie am Ende zermalmt. Mahlzeit. Beim Regisseur Sebastian Hartmann im Stuttgarter Schauspielhaus wird indes nicht gemalmt, sondern explodiert. Der ganze Kosmos zerbirst in Astralstaub.

Anders als Kirill Serebrennikov nebenan im Opernhaus, der Richard Strauss’ Vertonung bündig und brisant auf gegenwärtige Medienwirklichkeit, fundamentalistischen Terror, Hasspredigt und Islamophobie bezogen hat, richtet Baumgartens Inszenierung eine diskursorgienhafte Achterbahn zwischen Heute und Fin de siècle ein. Der alte Ästhetizismus des schrecklich Schönen, als schnöselhafter künstlerischer Allmachtskomplex ein ideologisch verstaubtes Relikt, wird neu vermittelt. Zum Beispiel als wissenschaftlich-technischer Allmachtskomplex, der nicht mehr die Welt, sondern den Kosmos kolonialisiert. Die Prolog-Worte von Einar Schleef, dessen Bearbeitung des Wilde-Dramas gespielt wird, spricht deshalb ein junger Mann in NASA-Blouson (Felix Mühlen, später sinnigerweise der Gesandte der Imperialmacht Rom). Der forsche Raumfahrer erklärt das Stück zur „Sauerei“ und dessen mutmaßliche Ersatzbefriedigung durch Sprache zum „Schmierfett“ künftiger Katastrophen, aber er weiß auch, dass das „männliche Christentum“ das „weibliche Opfer“ braucht, dass noch unterm Kreuz Christi sich die verführerische Schlange windet – und wir uns, wenn wir ehrlich sind, „so eine Schlange doch gern ansehen“. Also kleiner Voyeurismus statt großem Ästhetizismus. Dass dem aufgeräumt religionskritischen Party-Astronauten am Ende der zu erobernde Kosmos perdu geht, mahnt eine Deutung als Katastrophenparabel des technischen Zeitalters an. Ebenso der videoprojizierte Mond, der gleich zu Beginn in die Erde kracht und dann wie auf einer kolorierten Ultraschall-Aufnahme in einem Abmessungsquadrat eitrige Schwären bildet, sich grün und rot verfärbt als wäre er ein maligner Tumor: eine auf Medizintechnik reduzierte Zeit-Diagnostik, polemisch gleichgesetzt mit dem mondsüchtigen Aberglauben der männlichen Figuren im Stück.

Das Inszenierungsproblem ist nur, dass die Polyphonie der Deutungsansätze eine Unschärferelation eigener Art erzeugt, eine unausgegorene Mixtur von deutlichen Momenten und Ziellosigkeit des Ganzen. Auf einer weiteren Vermittlungsebene inszeniert Baumgarten sozusagen das Stück zum Film vom Stück. Der gute alte Sandalenfilm ploppt nicht nur im Filmszenencollage-Vorspann auf, auch in der dreifachen Entourage des Herodes und seiner Gattin Herodias. Der Goldlackaffe von Page (Horst Kotterba), der Henker mit Irokesenschnitt und Lederriemen über nackter Brust (Sebastian Röhrle), der wackere Narraboth (Christian Czeremnych) mit Kampfrock und blutiger Wadenwunde, schwach bis zum Suizid nur bei Salome – sie wirken wie aus der Genre-Mottenkiste gezogen.

Dass Narraboth auch mal eine Pistole zückt, blendet flugs anachronistisch eine andere Filmrealität ein. Ebenso der knipsende Paparazzo (Paul Grill) in diesem bitteren Dolce Vita einer dekadenten Herrscherclique, die oben, im „King David Hotel“ zu Jerusalem, ihre Techno-Party feiert, während davor eine finstere Treppe und ein mit projiziertem Unrat übersäter Steinabhang zur dampfenden Jauchegrube, dem vergitterten Verließ des Täufers, herabführen (Bühne: Thilo Reuther). Projektionen – im doppelten Wortsinn – prägen diese Welt zwischen Film und Wirklichkeit. Sexuelle werden zu filmischen Projektionen, wenn bei Salomes Tanz der Schleier nicht fällt, sondern zur Leinwand nackter Körperbilder wird. Wie in einer Doppelbelichtung säumen Holzverschläge den schäbigen und abschüssigen Hinterhof des Glamours, möglicherweise blendet Reuthers Bühnenbild auch die hässlich verbaute Böschung hinab zur Taufstelle des Johannes am Jordan ein, die jetzt sein Gefängnis ist. So überlagern sich als nunmehr ziemlich diffuse Mehrfachbelichtung obendrein Nahost- und Religionskonflikt mit dem alten Femme-fatale-Drama und einer Filmwirklichkeit, die mit Comic- und Spannungssoundtrack das Schauspiel ins Nachspielen von Filmposen verwandelt.

Kintopp mit Johannes dem Täufer

Wenn Salome den Täufer mit angedeuteten Schlägen zu Boing-Klängen traktiert, ihn wie eine Buhlteufelin niederringt, so dass er lieber wieder in die Grube springt, dann ist das Kintopp wie jene Szene, in der Herodes seine Herodias wie einen Riesenpenis vor sich hält und nach Eindringlingen sucht. Julischka Eichel spielt denn auch nicht Salome, sondern deren Einsatz in einer Rocky Horror Salome Show – blass, lauernd, kettenrauchend. Thomas Wodiankas Herodes ist ein läppischer Vaudeville-Rocker mit infantiler Anhänglichkeit an Papi-Ersatz Cäsar in Rom, Astrid Meyerfeldt als Herodias hat ihn im Griff – geifernd, aber auch mit der rächenden List der Frustrierten, die sich an ihrer tatsächlichen Macht schadlos hält für das, was ihr der Mann nicht mehr bietet: eine starke Darstellung. Und Johannes (Paul Grill in einer zweiten Rolle), der dreckstarrende Bußprediger aus dem Loch, löst nicht nur bei Salome paradoxe Wirkung aus: Krämpfe der Verzückung, erotisierend auch für seine Feindin Herodias, die Gatte Herodes prompt die Unterhose herunterreißt. Eros, Todestrieb, Religion: Bei Sigmund Freund kann man den Zusammenhang nachlesen. Aber Baumgarten zündet zum Finale noch Diskursraketen neueren Datums: Alexandre Kojèves Utopie vom „Verschwinden des Menschen“ in ungetrübter Natur und Giorgio Agambens Anti-Utopie vom Messias, der uns zeigt, „dass unsere Wünsche schon erfüllt sind“. Klingt wie ein lautes Ätsch: Das Beste ist immer schon vorbei. Wir haben’s nur nicht gemerkt – in dieser Inszenierung, die uns zuguterletzt tiefsinnigen Tons die Zunge herausstreckt. Und darauf setzt’s den Endknall. Alles futsch. Was sonst.

Weitere Vorstellungen: 13. und 17. Mai, 1., 23. und 27. Juni.