Nach dem Luftangriff: Manolo Bertling (knieend) mit Michael Stiller (links) und Sebastian Röhrle. Foto: Birgit Hupfeld Quelle: Unbekannt

Von Verena Großkreutz

Stuttgart - Licht aus. Dunkelheit. Ein Weißkohl-Gewitter ergießt sich über die Bühne. Die Kohlköpfe donnern auf den Boden und zerplatzen: die wirkungsvolle Simulation eines Luftangriffs mit den Mitteln des Theaters. Der dänische Regisseur Jonas Corell Petersen hat viele solcher trefflichen Ausdrucksmittel gefunden, um Ágota Kristófs brillanten Antikriegsroman „Das große Heft“, 1986 erschienen, beim Stuttgarter Staatsschauspiel auf die Bühne der Spielstätte Nord zu bringen. Im „Großen Heft“ geht es um Zwillingsbrüder, die in Zeiten des Kriegs von ihrer besorgten Mutter aufs Land zur Großmutter geschickt werden. Doch auch hier: Gewalt, Unterdrückung, Missbrauch, Hunger und Schmerz. Der Krieg entmenschlicht. Die Großmutter hat ohnehin ein kaltes Herz, soll ihren Mann umgebracht haben. Schule gibt es nicht. Die Kinder müssen arbeiten für Unterkunft und Essen, werden misshandelt, erleben Vergewaltigung, Missbrauch und andere Gewalt.

Überleben durch Abhärtung

Das Besondere am Zwillingspaar: Es ist zu klug, um in dieser Welt Liebe und Mitgefühl zu erwarten. Um zu überleben, passen sich die Brüder an, härten sich ab gegen physische und psychische Schmerzen, üben sich gar in der „Kunst des Tötens“. Quälen die Katze, vergiften die Großmutter, wie sie es wünscht. Opfern am Ende den Vater, um selbst die Minen der Landesgrenzen zu überwinden - und werden dennoch nicht zu Monstern. Gerade weil sie ihr Mitgefühl nicht abtöten können, unterscheiden sie sich von ihrer Umwelt.

Geschrieben ist „Das große Heft“ in knappen, tagebuchartigen Abschnitten, die in ihrer Sachlichkeit schwer zu ertragen sind. Erzähltexte solcher Art eignen sich mit ihren episodenhafte Einzelszenen durchaus für die Bühne. In diesem Sinne funktioniert die Bearbeitung des Regisseurs und des Dramaturgen Jan Hein gut.

Die Zuschauer im Nord sitzen rund um die Bühne weit über den Köpfen der Darsteller auf Bierbänken und schauen wie in eine Arena herab auf die zunächst leere, schwarze Spielfläche (Ausstattung: Nia Damerell). Die Kapitelüberschriften werden an die Wand projiziert, das Publikum beobachtet das Geschehen, so wie das Zwillingspaar seine Umgebung analysiert.

Die Neunjährigen werden freilich von gestandenen Männer gespielt: Sebastian Röhrle und Michael Stiller. Die beiden wirken abgeklärt, sehr distanziert. Sie berichten dem Publikum mehr, als dass sie spielen. Das Beschmieren des halbnackten Körpers mit Lehm wirkt da aufgesetzt, ein Ringkampf eher spielerisch als ernst. Die erzählten Grausamkeiten - von der Folterung der beiden durch einen Polizisten bis zum der Tod der Mutter, die von einer Landmine zerfetzt wird - vermitteln sich wie im Buch nur in lakonischen Sätzen, die genauso kühl gesprochen werden, wie sie geschrieben sind: „Wir betrachten unsere Mutter. Die Eingeweide quellen ihr aus dem Bauch. Sie ist überall rot. Das Baby auch.“

Weil das Ungeheuerliche an der Geschichte die Jugend ihrer Protagonisten ist, geht das Konzept oftmals nicht auf. Zwar stellt der Regisseur den beiden Männern gelegentlich zwei Kinder, Tobias Hörtig und Finn Stadler, zur Seite, denen Röhrle und Stiller die Sätze in die Ohren soufflieren, etwa wenn es um die Erpressung des pädophilen Pfarrers geht. Der eiskalte Schauder, der einem beim Lesen des Buchs immer wieder den Rücken hinunterfährt, bleibt aber aus. Dabei fährt der Abend wirkungsvolle Mittel auf, um das Bühnengeschehen zu kontrapunktieren: etwa Musik der Beach Boys, Songs wie „Wouldn’t it be nice“, der von den beiden Kinderdarstellern, Knabensolisten der Chorakademie Pforzheim, wunderbar und anrührend gesungen wird. Als Subtext verstanden („Wäre es nicht schön, zusammenzuleben? / In der Art von Welt, zu der wir gehören“) könnte die schöne Wohlfühlmusik unheimlich wirken. Ihr fehlt aber der sichtbar harte Kontrast auf der Bühne. So verpufft die Kraft der Ironie.

Dennoch ist „Das große Heft“ sehenswertes Theater. Dank seiner Kurzweiligkeit und des Ensembles. Rahel Ohm spielt die Großmutter derb, hart und laut. Gabriele Hintermaier schlüpft gleich in mehrere Rollen, ob Mutter, Briefträger oder Polizist. Viktoria Miknevich spielt Hasenscharte, das Nachbarmädchen, das es mit dem Ziegenbock treibt, gleichermaßen unschuldig wie lebenshungrig. Und der wunderbar komische Manolo Bertling übernimmt neben dem Vater und dem Pfarrer auch alle Tiere des Hofs, ob Hund, Ziege oder Katze. Das ist herrlich - angesichts des beschriebenen Grauens dann aber doch des Schmunzeltheaters ein bisschen zu viel.

Die nächsten Vorstellungen: 16., 28. und 31. Oktober, 29. November, 1. und 28. Dezember.