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Nachdenkliches prallt auf Zwischenmenschliches, nur ein Mal schimmert kurz eine politische Haltung durch. Sie können das Fieber immer noch mühelos entfachen, konzertant immer noch eine Schippe drauf legen.

Von Ingo Weiß

Stuttgart - Wie vor einem großen, alles entscheidenden Fußballmatch: Fangesänge wabern durch die Arena. Hosen-Ultras in den ersten Reihen schwenken Riesenfahnen. Schwarze „Bis zum bitteren Ende“-Banner steigen empor. Klänge, angelehnt an die Showdowns in Western-Klassikern, ertönen. Noch bevor die Toten Hosen das Bühnen-Spielfeld betreten, ist die Stimmung der Fans knapp unter dem Siedepunkt. In ihren Gesichtern tobt die erwartungsselige Freude: schwitzend, hymnisch. Mit ohrenbetäubendem Lärm wird die Band empfangen, die sich 1982 gegründet hat, im Jahr, als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde. Es wird ein überragendes und umjubeltes Heimspiel - ganz und gar kein „Auswärtsspiel“, wie die Düsseldorfer mit dem zweiten Song vom gleichnamigen Album von 2002 verschmitzt glauben machen wollen. Das aktuelle, sechzehnte Werk der punkigen Kulttruppe heißt „Laune der Natur“.

Viele der fünfzehn Lieder handeln von Verlust und Tod, von Beerdigungen und Abschied nehmen. Die Reflexion ihrer eigenen Geschichte in den vergangenen Jahren erzählt bei allen erlebten Hochs vornehmlich von Schicksalsschlägen. Doch was machen die Hosen in der Stuttgarter Schleyer-Halle, die sie alle Jahre wieder, bereits zum elftenmal, restlos ausverkaufen? Sie verzichten auf Abschieds-Stücke wie „Eine Handvoll Erde“ und „Kein Grund zur Traurigkeit“. Stattdessen feiern sie das Leben! Und wie!

Wie besser als mit einem „Urknall“. Das schnelle, wüste Punk-Stück, das an die Frühzeit der Band erinnert, ist nicht nur CD-Eröffnungstitel sondern auch Initialzündung für einen rasanten Geschwindigkeitsrausch auf der Abrissbirne. Sänger Campino, Kuddel, Breiti, Andi und der Brite Vom, alle Anfang bis Mitte 50, wollen es scheinbar krachen lassen - und lassen es unglaublich kräftig und energetisch krachen. Nicht nur die Auftakt-Songs wie „Laune der Natur“, „Die Schöne und das Biest“ oder das sehr selten gespielte „Disco“ kommen rau, dreckig und brachial laut daher, aber immer auch mit einem hymnischen Charakter. Wie Schlachtgesänge werden sie inszeniert, 12 000 johlende, grölende, hüpfende und pogende Fans formieren sich zu einer einzigen und einzigartigen Massenekstase. Überwiegend lebenslustig, manchmal zornig, marschiert die Band unaufhaltsam nach vorne, den Herzschlag stets auf 200. Das Konzert changiert zwischen einem großartigen Fußballabend mit beeindruckender Fan-Choreografie („Altes Fieber“, Steh auf wenn Du am Boden bist“) und einem Wasenzelt-Auftritt („Zehn kleine Jägermeister“, „Schönen Gruß, auf Wiederseh’n“). Neue Songs wie „Wie viele Jahre („Hasta la Muerte“), das eher poppige „Unter den Wolken“ und leichtere Muse wie das reggaeske „Wannsee“ treffen auf uralte Gassenhauer wie „Bonnie & Clyde“ und Klassiker wie „Wünsch Dir was“ oder „Hier kommt Alex“ und fügen sich nahtlos in das Set ein. Darunter mischen sie aber auch die eine oder andere selten zu hörende Perle. Zum Beispiel „35 Jahre“ aus dem Album „Ein kleines bisschen Horrorshow“ von 1988 oder „Weihnachtsmann vom Dach“ aus dem Album „Wir warten auf’s Christkind“ von 1998. Nachdenkliches prallt auf Zwischenmenschliches, im Grunde nur ein Mal schimmert kurz eine politische Haltung durch. Das Stück „Willkommen in Deutschland“, 1992 geschrieben, aber so aktuell wie damals, ist ein Lied gegen Rechtsextreme, in dem seit einigen Jahren auch Pegida Erwähnung findet. Es gehört wie wenige Songs zum Pflichtprogramm. Ohne extra Aufforderung skandieren die Fans anschließend „Nazis raus!“, was Campino mit einem großen Dankeschön beantwortet. Die Bühnenshow ist ein Frontalangriff auf die Sinne, einfach, aber effektvoll. Drei qualitativ hochwertige LED-Screens im Hochformat zeigen abwechselnd die Musiker und kurze, bunte Videoschnipsel. Zusammengeschaltet und bei „Eisgekühlter Bommerlunder“ perfekt zusammengeschnitten ergibt sich eine riesige Projektionsfläche mit der minutiösen Übertragung des Bühnengeschehens. Zumeist im grobkörnigen schwarzweiß sieht man in die zerfurchten Gesichter der Protagonisten, die allesamt älter, fast verwegener geworden sind.

Auch oder gerade Campino alias Andreas Frege in schwarzer Hose und grauem Ringelpulli. Trotz seiner 55 Jahre gibt er noch immer die Rampensau, geht volles Tempo. Er rennt und tänzelt seitwärts über die Bühne, grinst spitzbübisch, erzählt herrliche, launige Stuttgart-Anekdoten, singt mit einer Wucht, dass es alle hochreißt, schwitzt und springt, wirft Bierdosen und sich in die Menge und wickelt mit wenigen Worten oder Gesten Zehntausende um den Finger, die auf sein Kommando sitzen, hüpfen und fürsorglich mit dem Nachbarn umgehen. Campinos Energielevel lässt keine Sekunde nach.

Mit seines Fitness kann mindestens die Hälfte der Hosen-Fans nicht mehr mithalten. Viele sind mit der Band gealtert, haben Frau und Kinder mit Ohrenschützern mit an Bord und sind eher weniger bewegungsorientiert. Aber deshalb nicht weniger euphorisiert wie die tobenden jüngeren Anhänger. Sie finden auch Gefallen an den balladesken „Streicheleinheiten“, die ihnen die Hosen zur Überraschung und zwischendurch gönnen. Echte Musiker - Pianistin Esther aus Südkorea sowie vier junge Streicher - unterlegen Stücke wie „Böser Wolf“, die Licht-Installation „Alles passiert“ oder ein triangeliges Extrakt aus Mozarts kleiner „Nachtmusik“, mit der die Hosen ein weiteres Adventskalendertürchen öffnen. Das Ensemble stört zwar nicht, aber den ansonsten hervorragenden Sound bereichert es trotzdem nur bedingt.

Der „Das-ist-kein-Punkrock-mehr“-Fraktion gefällt auch die AC/DC-Einlage „Highway to Hell“, die lauthals mitgegrölt wird. Allenthalben ist man gesitteter geworden, das sehr textsichere Publikum wie auch die ruhiger agierende Band. Trotz der Hosen-typischen Mischung aus Krach und Krawall, Vollspann und Haltung lebt die Friedfertigkeit in der Arena. Harte Kerle mit weichem Kern sind gefragter denn je. Deshalb äußert Campino auch die Bitte weiterzutragen, dass nicht nur Sauf- und Proletenlieder gespielt werden. Sondern auch massenkompatible Songs wie „Tage wie diese“, den Campino kurz vor Mitternacht im rot-weißen Konfettiregen anstimmt. Obwohl das Stück ein unfassbares Eigenleben entwickelt hat und mittlerweile bei Geburtstagen, Hochzeiten und Beerdigungen sowie natürlich in den Fußballstadien gleichermaßen rauf und runter genudelt wird, entdecken die Toten Hosen die Schönheit des Liedes in der Schleyer-Halle neu. Sie können das Fieber immer noch mühelos entfachen, konzertant immer noch eine Schippe drauf legen. Sie waren und sind bis heute live eine Supermacht.

Ultralange zweidreiviertel Stunden und 38 Songs dauert der fulminante Kraftakt der Band, bei der ein Spiel nie nur über 90 Minuten geht, sondern immer mindestens in die Verlängerung. Nach der Liverpool-Hymne „You’ll never walk alone“, die jetzt in echt zelebriert wird und nicht vom Band kommt wie zu Beginn und eine wunderbare Stadionatmosphäre in das Hallenrund zaubert, kehren Campino & Co. ungeplant für einen dritten Zugabenteil zurück, inklusive „Opelgang“, dem Yankees-Cover „Halbstark“ und dem Schlussakkord „Bis zum bitteren Ende“. Unwillkürlich fragt man sich genauso wie die Band, wie lange das noch so weitergeht, nach 35 langen Band-Jahren und Jahren mit der Band. Niemand weiß eine Antwort, aber hoffentlich noch ganz lang.

Am 21. Juli 2018 geben die „Hosen“ ein Open-Air-Zusatzkonzert auf dem Cannstatter Wasen.