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Musik, die ins Nichts zu vergehen scheint: So endet die neunte Sinfonie von Gustav Mahler. Teodor Currentzis deutet mit dem SWR Symphonieorchester den vermeintlichen Abgesang jedoch als Aufbruch in die radikale Moderne und ihre Utopien.

StuttgartEin Exzess – aber keiner von der lauten, aggressiven, rauschhaften Sorte. Die gab es samt den einkomponierten Kollapsen vorher zu hören. Die Coda des abschließenden, aber nicht enden wollenden Adagios von Gustav Mahlers neunter Sinfonie strebt nach radikaleren Entgrenzungen. Diese Streicher-Schlusstakte einer die Zeit aufhebenden, ihre Bewegungsimpulse dem absoluten Nullpunkt nähernden, ihre Motivik zu Einzeltönen atomisierenden Musik nimmt Teodor Currentzis mit dem SWR Symphonieorchester als Verheißung: Exzessiv langsam, exzessiv leise berühren sich die Extreme der Zeitlupe (also genauester Nähe) und der klangräumlichen Entrückung (dem Blick durchs umgedrehte Fernrohr vergleichbar). Die scheinbar paradoxe Verschmelzung von Nähe und Ferne steht in der mit Todesmetaphorik, Abschiedshermeneutik und Untergangskulinarik vollgestopften Rezeption des Werks für eine veränderte Sicht: Im Beethovensaal erklang eben kein sinfonischer Abgesang eines moribunden Komponisten (immerhin hat Mahler danach seine zehnte Sinfonie begonnen), sondern Musik der Negation. Aber keiner Negation ins Nichts: Das Verlöschende ist nicht die Auslöschung, das von Mahler mehrfach notierte „ersterbend“ meint nicht plump die Zielgerade des Todes. Vielmehr gilt es einer Musik, die sich befreit von den Zwängen der Form und des Metrums, die in Tonschatten und Echos ahnen lässt, was nicht definiert, nur vage umschrieben werden kann: das Andere, Transzendente, Gott oder die Revolution oder beides. Currentzis realisiert damit das Experimentelle bei Mahler, das vorausweist auf die Klangutopien Weberns, Feldmans oder im Spätwerk Luigi Nonos (dessen Zwei-Violinen-Opus „Hay que caminar soñando“ von 1989 folgte denn auch im inoffiziellen Programmteil).

Auf dem Weg zur Moderne

Was auf dem Weg zu dieser ekstatischen Moderne liegt, hat Mahler zuvor abgearbeitet, und Currentzis ist sein getreuer Prophet. Das satt und expressiv glühende Streichermelos zu Beginn des Adagios bindet er gezielt an die unterminierenden Fagott-Linien. Den Kopfsatz – korrespondierend mit dem Adagio – dirigiert er als das, was er ist: ein Geflecht isolierter Klangereignisse mit Auflösungstendenz in wellenartig umkräuselte Einzeltöne (wobei ein paar Konzentrationsschwächen im Orchester die Mikroskopie trübten). Die Sonatensatzform spukt nur noch geisterhaft durch diesen Taumel Mahler’scher Reminiszenzen: nostalgische Fragmente, einen popanzhaften Trauermarsch, seufzende Wehmut. Currentzis tilgt nichts an Trostlosigkeit und Resignation, lässt das Blech schneiden wie Schmerz. Und doch gellen die beckenklirrenden Höhepunkte weder wie aufbäumende Agonie noch wie Triumph, sondern wie vorläufig – der eigentliche Höhepunkt ragt ja am Ende ins Leise.

Im Ländler-Scherzo und in der Rondo-Burleske betont Currentzis den Collage-Charakter, die Fügung des Ungefügen. Rustikal, ja grob knarzen die zweiten Violinen im Scherzo ins menuettartig blubbernde Fagottmotiv – kaum ein Dirigent wagt solche Drastik. Im irren Rondo-Getriebe schärft er die Kontraste zwischen Maschinenhaftem und sentimentalischer D-Dur-Episode, wo in geschmeidiger Erinnerungsseligkeit eine schöne Trompete bläst.

Currentzis, der Charismatiker? Ja, aber die Suggestivität seiner Mahler-Interpretation verdankt sich zuvorderst einer genauen Lesart der Partitur, sorgsamer Transparenz, einer in die Extreme gehenden, doch proportionierten Dynamik. Das Ergebnis: überragend in seiner radikalen Intensität.