Sänger müssen auswendig singen, findet Brigitte Fassbaender. Foto: Reiner Pfisterer - Reiner Pfisterer

Interview mit der Sängerin Brigitte Fassbaender. Die 79-Jährige ist Juryvorsitzende beim Liedwettbewerb der Hugo-Wolf-Akademie, der an diesem Dienstag beginnt.

StuttgartSchon zum zweiten Mal ist die Sängerin Brigitte Fassbaender (79) Vorsitzende der Jury beim Stuttgarter Liedwettbewerb der Hugo-Wolf-Akademie. Im Gespräch mit unserer Zeitung gibt sie Einblicke in den Musikbetrieb.

In diesem Jahr gab es so viele Anmeldungen für den Liedwettbewerb wie noch nie zuvor.
Ja, ich glaube, nach der Vorauswahl sind 38 Gesang-Klavier-Duos übrig geblieben. Ein gewaltiges Pensum für die Juroren!

Also ist das Lied überhaupt nicht tot?
Junge Sänger interessieren sich sehr für das Lied, nur das Publikum und die Veranstalter nicht mehr.

Und warum nicht?
Ich glaube, die Intimität des gemeinsamen Erlebens eines solchen Live-Vorgangs, der die Zuhörer sehr direkt anspricht, wird nicht mehr geschätzt oder angenommen. Vielleicht liegt der Hauptgrund dafür beim Internet und bei den Medien, vielleicht haben sie die Menschen verändert und das Live-Erlebnis abgelöst oder ausgelöscht.

Für das Lied braucht es aber auch eine besondere Qualifikation, nämlich Textverständnis. Nimmt das heute ab?
Ja, viele Menschen beschäftigen sich heute nicht mehr mit Lyrik. Gedichte von Eichendorff, Mörike, Goethe, Keller, Meyer oder Rilke sind kein vertrautes Terrain mehr. Wenn es zurzeit überhaupt noch lesende Menschen gibt, dann lesen die nicht Gedichte, denn die haben eine eigene Sprache, die oft als schwierig und nicht mehr zeitgemäß empfunden wird. Bei mir liegt immer ein Gedichtband auf dem Nachttisch, aber da bin ich halt noch von früher übrig geblieben.

Wenn junge Sänger Lyrik verstehen, ältere Zuhörer aber nicht mehr, dann geht eine Schere auf merkwürdige Weise auseinander. Haben Studierende in den Liedklassen wirklich ein Verständnis für Lyrik?
Aber ja! Nur gibt es kaum mehr Podien für das Lied. Selbst bei traditionellen Lied-Veranstaltern wie etwa der Schubertiade Schwarzenberg wird die Situation immer schwieriger. Ich habe ja auch mein kleines Festival, den Liedsommer in Südtirol, da kämpfe ich, aber das kostet viel Kraft.

Warum singen eigentlich immer mehr Sänger auf der Bühne nicht mehr auswendig, sondern von Noten?
Es könnte sein, dass junge Sänger nicht mehr in der Lage sind, ganze Programme auswendig zu lernen. Entscheidender ist aber wohl, dass sich die Mühe des Auswendiglernens für sie nicht mehr lohnt, weil die Auftrittsmöglichkeiten so gering geworden sind. Dabei ist das Singen von Noten eigentlich eine Unsitte sondergleichen. Als ich als Sängerin noch aktiv war, habe ich manchmal zwischen zehn und 15 Liederabende im Monat gegeben, da hatte jede mittlere Stadt in Deutschland eine Konzertreihe, in der auch Liederabende angeboten wurden. Damals habe ich jährlich zwei bis drei Liedprogramme auswendig gelernt. Überhaupt nicht verstehen kann ich, wenn Sänger heute sogar populäre Lieder von Noten singen. Eine „Winterreise“ von Noten! Unmöglich!

Warum?
Man kann man etwas nur wirklich gut interpretieren, wenn man es vollständig beherrscht, und dazu gehört eben auch, dass man alle Noten im Kopf hat.

Wird an den Musikhochschulen genug und gut genug Liedgesang unterrichtet?
Das glaube ich schon. Schließlich gibt es nichts, was Stimmen mehr diszipliniert und kultiviert als der Liedgesang, und es hat große Vorteile für den Operngesang, wenn man über das Lied gelernt hat, mit Texten bewusst und akribisch umzugehen. Das weiß man an den Hochschulen.

Welche Lieder werden denn vor allem unterrichtet?
In meine Kurse kommen viele junge Sänger mit einem sehr engen und traditionellen Liedrepertoire. Es gibt offenbar kaum mehr junge Menschen, die alles Mögliche einfach mal so durcharbeiten und sich dann ein individuelles Programm zusammenstellen. Dabei ist das Liedrepertoire eine wirklich unübersehbare Landschaft: so toll, so spannend!

Was ist das größte Problem, mit dem Sänger umgehen müssen?
Dass sie oft viel zu früh vor Aufgaben gestellt werden, denen sie noch lange nicht gewachsen sind. Weil Selbstüberschätzung zu den meisten Sängern gehört, gibt es kaum jemanden in unserer Zunft, der seine Grenzen genau kennt und anerkennt – dazu sind der Ehrgeiz und die Freude am Singen zu groß. Gerade wenn ein junger Sänger ins Engagement geht, braucht er wissende Leute, die nicht nur den Ist-Zustand, sondern die Entwicklung einer Stimme beurteilen können.

Die dem Sänger also genug Zeit geben.
Genau. Viele werden auch deshalb rasch verschlissen, weil ein großer Konkurrenzdruck herrscht, und der Verschleiß kommt durch die Anforderungen und durch das Pensum – das wächst allein schon dadurch, dass die Opernensembles immer kleiner werden.

Wir sehen an den Hochschulen zahlreiche koreanische Gesangsstudenten.
Die haben das Feld übernommen, das früher italienischen Sängern gehörte. Die gibt es heute irgendwie kaum mehr. Koreaner kommen gut ausgebildet und mit meist sehr schönen, gut ausgeruhten Stimmen, weil es eine sehr gute, vorsichtige Früherziehung in Korea gibt.

Auch im Lied?
Da habe ich schon Erstaunliches erlebt. Stimmschönheit ist allemal da, und die braucht es, denn wer würde sonst gerne ein bis zwei Stunden einer einzigen Stimme zuhören? Natürlich müssen ein gutes Programm, Ausdrucksvermögen und sängerische Intelligenz dazukommen.

Gibt es außer dem Stuttgarter Wettbewerb noch einen, der für feste Liedduos ausgeschrieben ist?
Ich kenne keinen.

Finden Sie das Stuttgarter Verfahren gut?
Ja. Pianist und Sänger sind gleich wichtig, sie müssen eine Einheit sein.

Verraten Sie noch Ihr Lieblingslied?
Ich habe viele. Aber eines meiner allerliebsten ist die „Taubenpost“ von Schubert. Diese Sehnsucht hat mich immer tief berührt und beflügelt.

Das Interview führte Susanne Benda.

Hintergrund

Künstlerin: 1939 wurde Brigitte Fassbaender in Berlin geboren. Studium in Nürnberg, ab 1961 Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper München. Weltweit Auftritte unter anderem als Octavian, Cherubino, Waltraute, Brangäne. Carmen, Orlofsky und bei Liederabenden. Die Mezzosopranistin nahm etwa 150 Schallplatten auf. Nach Beendigung der Sängerkarriere Regiearbeiten. 1999 bis 2012 Intendantin des Tiroler Landestheaters. Seit 2002 Leitung des Eppaner Liedsommers.

Wettbewerb: Die erste Runde des elften Internationalen Liedwettbewerbs der Hugo-Wolf-Akademie an diesem Dienstag ist nicht öffentlich. Ab der zweiten Runde, die am Donnerstag um 11 Uhr beginnt, kann man in der Stuttgarter Musikhochschule dabei sein. Außerdem werden sämtliche Auftritte live im Internet übertragen. Das Preisträgerkonzert findet am Sonntag, 23. September, 17 Uhr, in der Musikhochschule statt. Karten unter Telefon 07 11 / 22 11 77. Livestreams unter www.lied-wettbewerb.de.