Dave Gahan zeigte sich beim Auftritt in Stuttgart in Topform. Foto: Torsten Rothe Quelle: Unbekannt

Von Ingo Weiß

Stuttgart - Ein donnernd-trommelnder Stakkato-Beat, unterschwellig klingend wie das schwere Rattern eines Zuges, dröhnt durch die Arena. Auf der LED-Wand stampfen dazu nur zwei animierte Füße in weiß, aber mit dem Nachhall einer ganzen Armee. Ein dumpfer Tonfall ist gesetzt, noch bevor Dave Gahan mit seinem Bariton innerliche Leere beklagt und einen Rückschritt der Menschheit zur Höhlenmenschen-Mentalität anprangert. Der Opener „Going Backwards“, auch der erste Song des aktuellen Depeche Mode-Albums „Spirit“, scheint die Ouvertüre zu einer konzertanten Suite aus finsteren und depressiven Sätzen - auch wenn das quietschbunte Bühnenbild im Hintergrund Gegenteiliges verheißt.

Überhaupt klingt „Spirit“, das vierzehnte Album des britischen Trios, krisenhaft und pessimistisch. Viele Songs handeln von politischen Umbrüchen und sind als Warnung vor einem Technologie- und Digitalisierungs-Gau zu verstehen. Die Menschheit ist, so scheint es, vom Weg abgekommen. So klingt auch das erste Drittel des 125 Minuten langen Konzerts in der ausverkauften Stuttgarter Schleyer-Halle: schwarzseherisch, Furcht erregend, gespenstisch wie das Halbdunkel, in dem sich Depeche Mode zu Beginn bewegen. Mit „It’s no Good“ von 1997 schieben sie einen weiteren bedrückenden Song gleich hinterher.

Rhythmus von Anklage und Kritik

Im schleppenden Rhythmus von Anklage und Kritik geht es danach weiter. Hier die schonungslose Selbstkritik eines Versagers („Barrel of a Gun“), dort massive Vorwürfe an den Beziehungspartner („A Pain that I’m used to“) als Rockbrett. Später werden die „patriotischen Junkies“ aufgefordert, endlich auf den Revolutions-Zug aufzuspringen: „Where‘s the Revolution“. Die Grundstimmung pendelt zwischen Melancholie und Synthie-Rhythmus. Schon immer zeichnen sich Depeche Mode dadurch aus, katastrophische Momente in schlüssigen Formen und elektrisierenden Sounds zu präsentieren. Der dumpfe Auftakt tut ihrem Auftritt aber fast keinen Abbruch, auch wenn er musikalisch nicht ganz überzeugt. In jedem Falle manifestiert er die Tatsache, dass die Briten nicht mehr die (Teenie-)Synthiepop-Band der 80er-Jahre sind, sondern nur noch Depeche Mode, eine jener Gruppen, die ein Genre für sich sind. Mit dem von einem erotisierenden Tanzvideo unterlegten „In your Room“ und dem schwermütig-faszinierenden „Cover me“ beweisen sie, dass sie selbst aus dämonischen Szenarien Lust und Enthusiasmus gewinnen. Wenn der Groove, wie bei „Useless“, nur so hypnotisch wie möglich und der Gesang so inbrünstig leidend wie bei Gahan ist.

Der 55-jährige Frontmann zeigt sich an diesem Abend in bester Form, man hat ihn in der Vergangenheit schon deutlich unterkühlter erlebt. Er stolziert über die Bühne wie einst Freddie Mercury, wandelt auf seinem eigenen schmalen Grat zwischen Homoerotik und pathetischem Pfauen-Gehabe. Mit den 13 500 Fans direkt kommuniziert er weiterhin selten, dafür ist er zu sehr wortkarger Galan, Dandy, Schamane und Schlangenbeschwörer. Seine Animation, die so gut wie nie die Distanz zwischen Band und Publikum überwindet, beschränkt sich auf Tanzen und Arme schwingen, auf Leidensausdruck und personifizierte Seelenpein. An Gahans Seite: Martin Gore, der musikalische Mastermind von Depeche Mode. Zur Zeit herrscht gutes Einvernehmen zwischen kreativem Kopf und Frontmann, was nicht immer so war. Meist spielt der 56-Jährige Gitarre, beim fantastischen „Precious“ sogar heftig metallisch. Dreimal, bei „Insight“, „Home“ und „Strangelove“, nimmt er sich sogar das Recht heraus, solo zu singen, nur vom Begleitmusiker Peter Gordeno unterstützt. Doch gegen dessen überpowerte Keyboardklänge kommt der Blondschopf mit seinem intim-sehnsüchtigen Vibrato nicht an, der angedachte Kontrast innerhalb der Depeche-Mode-Dramaturgie gelingt nur bedingt. Die Spannung im Mittelteil des Konzerts bleibt etwas auf der Strecke. Gewohnt stoisch agiert Andrew Fletcher hinter seinen Keyboards und Synthesizern. Er, der mit Gore (und seinerzeit Vince Clarke) die Band gegründet hat, die seit dem Einstieg von Gahan 1980 den Namen Depeche Mode trägt, bleibt den ganzen Abend über stumm. Dafür beglückt der Österreicher Christian Eigner mit einem berserkerartigen Schlagzeugspiel, das das Konzert fast schon in den Adelsstand eines klassischen Rockkonzerts erhebt.

Die Show insgesamt ist recht reduziert. Der niederländische Fotograf und Filmregisseur Anton Corbijn, mit dem Depeche Mode schon länger zusammen arbeiten, hat überdies eine Handvoll Kurzfilme gedreht. Unzeitgemäß sind diese, stellenweise geschmäcklerisch und künstlerisch ätherisch überhöht. Die Sinnfrage erübrigt sich.

Fans kommen für die Kult-Songs

Den Fans - der Großteil des Publikums ist mit der Band gealtert - ist das egal, sie sind eindeutig für die Kult-Songs gekommen, die die Band auch liefert. Im Laufe von 37 Jahren haben Depeche Mode so viele Hits geschrieben, dass sich nur die Frage stellt, welche Rosinen sie servieren. Am Ende führen „Stripped“, „Enjoy the Silence“, das mit einem pulsierenden Beat aufwartet, von dem David Guetta nur träumen kann, und „Never let me down again“, draußen auf dem Laufsteg intoniert, in ein hymnisches Finale Furioso, das mit dem besten und betörendsten Stück des Abends eingeleitet wird. „Everything counts“ gerät zur Faszination und Euphorie pur. Dunkelheit kann blendend leuchten - und für wenige Minuten ist der ohrenbetäubende Sound einfach nur überwältigend.

Der Zugabenteil kann da nur noch bedingt mithalten. Am ehesten entfachen noch das diabolisch illuminierte „A Question of Time“ und „Personal Jesus“ eine ähnliche bombastische Trunkenheit wie „Everything counts“. Noch einmal setzt sich Dave Gahn großartig in Szene, singt überkandidelt, leidet und kreiselt wie ein Besessener, derweil Martin Gore eine heavy Gitarre anreißt, dass einem Hören und Sehen vergeht. Von der Schwerkraft befreit, jubeln die Fans. In der ersten Konzerthälfte überwog die Düsternis, in der zweiten die Lichtfülle. Und da, im Lichte betrachtet, zeigt die Band ihre wahre Übergröße: Als Pop-Band im allerbesten Sinne.