In der Einsamkeit der Erinnerung: Enzo Capuano als Don Pasquale. Foto: Martin Sigmund - Martin Sigmund

Jossi Wieler und Sergio Morabito inszenieren Donizettis „Don Pasquale“ an der Stuttgarter Oper als kapitalistische Tragikomödie.

StuttgartIm Stuttgarter Oberen Schlossgarten wird wieder „Don Pasquale“ gespielt. Nicht nur in der Oper, auch wenige Schritte davon entfernt. Richtung Hauptbahnhof hat sich wie in den vergangenen Jahren eine Sinti-und-Roma-Großfamilie in ihrem Freiluft-Biwak breit gemacht. Das muss einem nicht gefallen, das wird wieder zu Diskussionen und ordnungspolitischen Maßnahmen führen. Aber es führt vor Augen: ein krasses Wohlstandsgefälle, einen Zivilisationskonflikt, eine Kluft zwischen Integration und Ausgrenzung und die aus alldem resultierenden beiderseitigen Verhaltensmuster. Genau jene Hochbrisanz-Konstellation, die nebenan im Opernhaus vorgeführt wird, wo Intendant Jossi Wieler und sein Regie-Kompagnon Sergio Morabito die unter strengem Harmlosigkeitsverdacht stehende Musikkomödie Gaetano Donizettis ganz genau gelesen haben – und verdammt ernst nehmen. Da quält sich eine junge Dame, wie in eine Wurstpelle in Leggins gepresst, aus einem ihrer unbequemen hochkackigen Stiefel. Da verbreitet ihr Kumpane, der sich hochstaplerisch Doktor Malatesta nennt, mit Macho-Posen und Pomade den Charme eines windigen Gebrauchtwagenhändlers. Da frisst ein Hungerleider tütenweise Fastfood, und wenn Norina (so der Rollenname der jungen Dame) bedeutsam das Wort „Roma“ wiederholt, meint das wohl nicht nur den Schauplatz des Stücks, sondern die eigene Herkunft. Klar, „zu uns“ gehören diese Typen, gekleidet im folklorefrei-geschmacklosen Caritas-Look (Kostüme: Teresa Vergho), nicht. Es sind die nahen Fremden aus Fußgängerzonen, Bahnhöfen oder eben Parks, vom missmutig schnellen Blick flugs gen Balkan sortiert.

Doppelte Tragödie in der Komödie

Es ist nun nicht so, dass Wieler und Morabito in ihrer konsequent heutigen Inszenierung der 1843 uraufgeführten Oper den Alltagsrassismus durch billige Sympathiewerbung unterbieten. Im Gegenteil: Durchaus kriminell setzt das Trio dem alten Don Pasquale zu, mit dem es das gemeinsame Objekt der Begierde verbindet: das Geld. Pasquale hat es, die anderen wollen es haben und scheuen dafür weder Betrug noch seelische Grausamkeit. Das Kapital und der Kapitalismus stehen in der Komödie für eine doppelte Tragödie: die persönliche Don Pasquales und die politische der mangelnden Verteilungsgerechtigkeit in einem von Nord-Süd- und West-Ost-Gefällen zerfurchten geeinten Europa. Letztere gibt dem Gauner-Trio wenn kein Recht, so doch ein verständliches Motiv, erstere ist aus dessen Sicht ein unverständliches Luxusproblem. So stoßen in dieser Inszenierung, die alle unbeschwerte Leichtigkeit preisgibt für bitteren Konflikt-Humor, zwei Welten aufeinander: die Habenichtse, die sich mit irgendwo zusammengeklauten Klamotten in Schale werfen, um den alten Geldsack zu schröpfen. Und ein monetär erfolgreicher Unternehmer, der einst freilich anderes kannte als die Einsamkeit des Großkapitals: Ein wunderbarer Animationsfilm des Studios Seufz zeigt zur Ouvertüre Don Pasquales Flowerpower-Jugend (als heutiger 70-Jähriger gehört er zur 68er-Generation), bestens abgestimmt auf die Dramaturgie und die Slapstick-Qualitäten von Donizettis hoch inspirierter Musik. Dazu pop-bunte Bilder à la „Yellow Submarine“: der Sohn reicher Eltern, mit seiner Afro-Matte narzisstisch gespiegelt in den herzförmigen Free-Love-Pupillen seiner Freundin, beide paradiesisch nackt im See badend, natürlich auch die obligatorische Tüte rauchend. Dann aber: die pechschwarz autoritäre Vaterfigur mit drohendem Zeigefinger, repressivem Daumen und zerschmetternder Faust, die ihm den dünner werdenden Hippie-Lebensfaden kappt. Da hilft keine Flucht über Easy-Rider-Loops. Die Freundin fliegt vom Bike-Sattel, dem künftigen Firmenerbe wird das Blumenkind-Blut bis zu farbloser Anämie abgesaugt: Geld statt Liebe.

Und so sitzt der unanimierte, im Kapitaldienst ergraute Pasquale am Schreibtisch seines gläsernen und doch hermetischen Rundbüros, das sich zusehends zum Schneckenhaus verschließt (Bühne: Jens Kilian). Selbst einem David-gegen-Goliath-Knaben fällt im Glashaus der Stein aus der Schleuder, und doch ist der Kinderstatist ein Signal, dass Pasquales Imperium wankt. Und zwar durch den Gemütszustand des Alten selbst, der schwankt zwischen verinnerlichter Autorität und wiederkehrender Erinnerung. Beides wird getriggert durch seinen nichtsnutzigen Neffen Ernesto, einen Gegenwartsautisten mit Kopfhörer auf dem Deets und verknallt in just jene Norina, die Pasquale mittels Heirat an den Geldsack will. Der ist willig, um Ernesto abzuservieren, und auf den plumpen Schwindel fällt der clevere Unternehmer herein, weil ihm die Braut als verschleierte Ware mit kurz gelüftetem Röckchen – wie beim Blick unter den Gebrauchtwagen – serviert wird. Von Waren versteht er was, und das Etikett beim Waren- alias Frauentausch (unbeflecktes, naives Heimchen) behagt dem konservativ gewandelten Alt-68er erst recht. Dann geht’s freilich ans Eingemachte – und an die Erinnerung. Als Ernesto sein Fremdgang-Ständchen – eine weitere Falle – trällert, flimmert unscharf noch einmal der Jugend-Film: Späte Einsicht aus schmerzlicher Reminiszenz, Sympathie mit denen, die jetzt jung und verliebt sind? Vergiss es. Schmerz siegt. Gebeugt und einen Joint in der Hand erstarrt Pasquale in der Ecke. Das Ende: eine Enteignung. Norina hat ihren Clan samt Kinderschar ins Haus geholt. Geld oder Leben? Beides. Man lebt von Pasquales totem Kapital. Bitter für den Alten, böse für unsere Wohlstandssaturiertheit, brisant und brillant als scharf fokussierende Inszenierung.

Souveräne Kenntlichkeit

Wäre die musikalische Seite ebenso pointiert, wär’s ein großer Abend. Nun, für Enzo Capuano in der Titelrolle braucht es keinen Konjunktiv. In souveräner Kenntlichkeit spielt er den Firmenboss, der jederzeit Bella Figura macht, wenn er Geschäftspartner an die Wand klatscht, am eigenen Gefühlshaushalt aber scheitert. Und er singt mit unglaublich eloquentem, beweglichem Bass: eine Idealbesetzung. Bei André Morsch als Malatesta klingt es schon etwas eckiger und ungelenker. Während Capuano im Duett der Beiden das atemlose Parlando rasant und elegant den Orchestermotiven unterlegt, muss Morsch zwischenschnaufen. Koloratur-Sopranistin Ana Durlovski zeigt die Norina mit dominahaftem Spielwitz gerade nicht als Marionette, sondern als drahtziehende Herrin über Kabale und Hiebe. Sängerisch ist’s eine Gratwanderung: Was ihr kehliges Timbre verschattet, muss ihre perfekte Technik kompensieren. Ioan Hotea lässt als Ernesto nach anfänglichen Pressuren keinen großen, aber einen fein differenzierenden Tenor hören: geschmeidig und kantilenenfähig im lyrisch noblen Belcanto-Ton.

Zwiespältig das Dirigat Giuliano Carellas: Einerseits trimmt er das Staatsorchester auf sängerfreundliche Dezenz und Transparenz, andererseits führen etliche Tempo-Differenzen zwischen Bühne und Graben bis an den Rand von Schmissen, die gerade noch professionell umkurvt werden. Kammermusikalische Feinheiten feilt Carella sorgsam aus, die Dynamik aber bleibt matt: Die kraftvoll orchestrierte Partitur aufs Klangbild der 30 Jahre älteren Buffa-Opern Rossinis zu projizieren, ist nicht der wahre Donizetti. Trotzdem: riesiger Applaus am Ende, vor allem für Sängerinnen, Sänger und Inszenierung.

Die nächsten Vorstellungen: am morgigen Mittwoch (28. März) sowie 31. März, 4. und 29. Mai, 2. Juni.