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Das Stuttgarter Eclat-Festival für Neue Musik hat in diesem Jahr nicht nur schillernde Klänge hervorgebracht, sondern auch radikal die Grenzen der Musik ausgetestet. Scheitern und Gelingen lagen dabei nah beieinander.

StuttgartWas gibt’s Neues in der Neuen Musik? Neue Musik, zumal jene, die sich emphatisch mit großem „N“ schreibt, musste immer etwas zuvor Unerhörtes mit klingendem Material anstellen, um vorne, also bei der (mittlerweile stark hinterfragten) Avantgarde, mitmarschieren zu können; und sie musste unbedingt ihre Gegenwart widerspiegeln. Beides hat man auch beim diesjährigen Stuttgarter Eclat-Festival im Theaterhaus hören können. Da gab es Musik, die ihr Klangmaterial durchknetet, immer auf der Suche nach Überraschungsmomenten selbst für Ohren, die Zeitgenössisches gewohnt sind. Und es gab jene Projekte, die seit jeher einen Schwerpunkt der Veranstaltung bilden, nämlich crossmediale Werke, in denen sich die Musik auf andere Künste stützt, um zu erreichen, was ihr als wort- und begriffslosem Genre sonst verwehrt bleibt: klare Aussagen zu vertreten.

Kooperation statt Konkurrenz

Die prominenteste Position darunter nahm „Happiness Machine“ mit dem Klangforum Wien ein. Dargestellt werden soll Christian Felbers Modell der Gemeinwohl-Ökonomie, das, kurz zusammengefasst, der kapitalistischen Konkurrenz die Forderung nach Kooperation entgegenstellt. Außerdem porträtiert das Ensemble sich selbst. Erstaunlich: Beides gelingt. Zwischen zehn akustisch-visuellen Projekten, die in enger Zusammenarbeit von Filmemacherinnen und Komponistinnen entstanden, treten Musiker des Ensembles nach vorne und sprechen: über das Miteinander, über den Umgang mit dem Individuum in einer Musikergruppe, über Nachhaltigkeit. „Wie sinnvoll ist es, wenn ein ganzes Ensemble nur wegen eines 30-Minuten-Auftritts nach Tokio fliegt?“, fragt der Manager, „Wo kaufe ich ein, wenn mein Etat begrenzt ist: billig im Internet oder teurer beim lokalen Einzelhandel?“, fragt der technische Leiter. Und die Flötistin: „Wie gehen wir als Ensemble mit dem Älterwerden um?“ Auch ein widersprechender Saxofonist kommt zu Wort und wehrt sich gegen das Gemeinwohl-Modell: „Kunst an sich ist nicht politisch.“

Manches Statement wirkt zwar ein bisschen arg predigthaft. Und insgesamt hätten die Aussagen gewonnen, wenn man sie aus der umgebenden Kunst herausgehoben, also nicht noch zusätzlich inszeniert hätte. Dass das Projekt trotzdem starke Wirkung entfaltet, hat mit der Kunst selbst zu tun. Wundervoll spielerische Film-Musik-Kooperationen aus dem Spannungsfeld von Individuum und Gemeinschaft sind hier zu bestaunen. Auch wenn, weil die menschlichen Sinne nun einmal so funktionieren, die optischen Reize die akustischen überlagern, auch wenn man die Musik meist nur als Farbe zum Bild wahrnimmt, hört man die Stärke der Kompositionen, unter denen jene von Iris ter Schiphorst wohl den freiesten, vielleicht auch radikalsten Umgang mit den Trickfilm-Bildern (hier: von Michelle Kranot) pflegt.

Nach knapp drei Stunden verlässt man den Saal erfrischt und bereichert. Bei der nur halbstündigen Performance von Philipp Krebs („at close quarters“), bei der es vor allem um das lautstarke Abschleifen eines Klaviers geht, ist das nicht der Fall, bei Clara Iannottas einstündiger, statischer, dunkler Performance „skull ark“ ebensowenig. Und nach dem knapp zweistündigen Musiktheater „terra nera“ von Saskia Bladt ist man so erschöpft wie entgeistert. Um den Gralsmythos soll es wohl gehen; zu sehen ist indes eine dilettantisch bestückte und bespielte Szene, auf der sich die Neuen Vocalsolisten verlieren. Die einzigen guten zehn Minuten verdanken sich der Tatsache, dass die Akteure hier sehr fein gemeinsam singen.

Hochdruck im Hexenkessel

Hübsch war, wie der Komponist Eivind Buene in einer „Schubert-Lounge“ aus Originalfassungen von Schubert-Liedern, Pop-Versionen und Eigenkompositionen eine Art Klangband flocht. Für die stärkste Musik sorgten indes andere. Im Konzert des Ensembles Ascolta, das in den letzten Jahren eine rasante Aufwärtsentwicklung hingelegt hat, gab es tatsächlich kein einziges schlechtes Stück; von Hristina Susak („Anima“) und Mikel Urquiza („Sex doll deluxe“) stammten die überzeugendsten. Ansonsten gab es starke Stücke bei den Ensembles des SWR. In dem Hexenstück des österreichischen Komponisten Michael Pelzel („Hagzusa und Galsterei“) schien in der Darbietung durch das SWR-Vokalensemble unter Rupert Hubers Leitung förmlich Dampf aus zauberischen Erdlöchern aufzusteigen, und die mächtigen Klangwirkungen wie die ungeheure Energie des Stücks rechtfertigen im Rückblick die Mühe, die Pelzels komplexe rhythmisch-metrische Verschiebungen bereitet haben müssen. Was für ein Chor, der dieses singen kann! Und der sich obendrein gleich am Folgetag wieder hinstellt, um dem SWR-Symphonieorchester bei Vito Zurajs „Der Verwandler“ zur Seite zu stehen, einem effektbewussten Stück, das in etlichen Momenten seiner Dynamik, Tempi und Klangfarbenwechsel wirkt wie am Mischpult gestylt.

Geradezu den Atem verschlagen hat dem Publikum im Orchester-Abschlusskonzert in der Leitung des Dirigenten Brad Lubman das Klavierkonzert des Dänen Christian Winter Christensen. Dämpfer, Präparierung und Spielart ließen das Stück wirken, als huschten seine zahlreichen Wiederholungen, seine genretypischen Floskeln und Gesten wie auch manches verhüllte historische Zitat gleichsam hinter einem akustischen Gazevorhang vorüber. Die Pianistin Rei Nakamura rief durch Tastenberührung zuvor abgespeicherte Klänge hervor, Pedal- und Tastendruck wirkten wie erstickte Perkussion, und noch als am Ende des Zwanzigminüters die Musik in die Stille hineingetröpfelt war, blieb die hohe Spannung erhalten. Ein unglaubliches Stück. Es erzählt davon, wie entschieden radikal die Kraft des Leisen sein kann.