Ekstase und Klarheit: Teodor Currentzis dirigiert das SWR Symphonieorchester. Foto: SWR/Alexander Kluge Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - Sankt Teodor zieht: Wohl nicht nur die Neugier auf den künftigen Chefdirigenten (ab der kommenden Saison) des SWR Symphonieorchesters füllte an zwei Abenden den ausverkauften Stuttgarter Beethovensaal. Hier gilt es auch einer vorauseilenden Legende. Teodor Currentzis, der Dirigent in schwarzen Stiefeln und Röhrenjeans, der ohne Taktstock seine Klanggesten formt, wird derzeit höchstnotiert als Bekenner, Eiferer, Charismatiker kompromissloser Interpretation: ein Heiliger der Töne, der aus der Kälte kommt. In Sibirien begründete er seine Fama, dann wirkte er am Ural das Wunder von Perm: Als Opernchef in der russischen Provinzmetropole führte der heute 45-jährige gebürtige Athener sein Originalklang-Ensemble MusicAeterna zu Weltruhm. Die Mär geht von nächtelangen Proben-Orgien, von séanceartigen Beschwörungen musikalischer Offenbarungen, von einem Fanatiker, Guru, Schamanen namens Teodor C. Dass der Messias klingender Wahrheiten von der Peripherie aus gegen den Metropolen-Mainstream schwamm, lässt obendrein eine frische Anti-Establishment-Note ins jubelnde Hosianna schallen. Solche Typen braucht der verschnarchte Klassik-Betrieb. Also alles Marketing? Na klar.

Soundcheck öffnet die Ohren

Aber beileibe nicht nur. Der Soundcheck - etwa von Currentzis’ sensationellen Mozart-Opernaufnahmen aus Perm - beweist, dass hier einer die Ohren öffnet, die Partituren in ihrer ganzen Brisanz durchleuchtet, die feinsten Seelentöne nuanciert, die Expressivität der Form mit Hochspannung erfüllt. Currentzis ist ein Universalist, der Barockes mit allen Künsten der historischen Aufführungspraxis zum Leben erweckt, die symphonischen Schlachtrösser des Kernrepertoires galoppieren lässt und sich ebenso auf neue und nagelneue Musik versteht. Und dass er nicht nur mit seiner eingeschworenen Permer Hardcore-Truppe, sondern auch mit bundesdeutschen Tariforchestern zu arbeiten weiß, hat er unter anderem als Gastdirigent des in der Fusion aufgegangenen Freiburger SWR-Orchesters bewiesen. Ein Coup also, diesen nicht nur aufregend hoch gehandelten, sondern tatsächlich aufregenden Dirigenten für das fusionierte SWR Symphonieorchester zu verpflichten.

Der Vorschuss hoher Erwartungen ist freilich auch eine Hypothek. Mit seinem künftigen Orchester ließ Currentzis jetzt im Beethovensaal Bruckners unvollendete neunte Sinfonie hören - und, ja, die ersten Bläsereinsätze waren nicht ganz akkurat. Doch dann entfaltete sich eine Interpretation, die weder nur aufs Leise-Laut mit anschwellendem Pumpen eines Riesenmaikäfers setzte noch auf kühle Neonschärfe mit Klangbeton-Brutalismus. Vielmehr vereint Currentzis eine expressiv durchglühte Ekstatik mit größter Strukturklarheit. Die Entwicklung und Kontrapunktik der Motive verliert vollkommen jene leer rumorende Mechanik, wie sie in minderen Bruckner-Aufführungen zu hören ist. Alles kündet bei Currentzis hoch emotional von Sinn und Sinnlichkeit, gewinnt die Gestalt verbindlichster und unerbittlichster Leidenschaft. Den Beistand der Klarheit leistet die große Kunst des Kleinen: Überhörtes hörbar zu machen, etwa Feinheiten der Textur in der Überleitung zur Durchführung des Kopfsatzes, ohne die motivische Logik zu zerpusseln. Und bei der wuchtigen Reprise des Hauptthemas wahrt Currentzis bei aller vulkanischen Eruption des gleißenden Blechs die Balance, welche die chromatisch figurierenden Streicher zu ihrem intensivierenden Stimmrecht kommen lässt.

Wundersame Bezüge

Indes konnte der Dirigent den Eindruck, auf Kosten der entschiedenen Linie auf zwei interpretatorischen Hochzeiten gleichzeitig durch den Kopfsatz zu tanzen, denn doch nicht ganz tilgen. Das allzu seifige Espressivo im gesanglichen Seitenthema schlug eher Tschaikowsky-Schaum, als konzis der Bruckner’schen Erregungskurve zu folgen. Andererseits taten sich dank dramaturgisch überragender Stringenz wundersame Korrespondenzen auf: etwa von der trostlos verfallenden Weiterführung der Hauptthema-Reprise zum mystischen Trost der Choralpassage vor der Schlusssteigerung.

Im Scherzo dechiffriert die dramatisch aufgefasste Klangarchitektur die klirrenden Pizzicati zu Beginn als gleichsam erfrorene Gestalt des im Trio (dem beschleunigten Scherzo-Mittelteil) vorbeihuschenden Elfenzaubers - dem der trampelnde Furor des motorischen Hauptthemas brutal kontrastiert. Mit gnadenloser bruitistischer Gewalt inszeniert Currentzis diesen Stiefeltritt des Massen- und Maschinenzeitalters. Ähnlich sprengt die gellende, unaufgelöste Siebenton-Dissonanz des Blechs gegen Ende des Adagios das Gehäuse der Tonalität, und dem folgt nur noch ein flimmernder Abgesang auf die vergangene Zeit.

Currentzis setzt das Adagio mit markig-sonorem Leidenschaftsdruck unter Dauerspannung - allerdings nicht immer ganz homogen in der Legierung des ansonsten trefflichen Klangs und mit intonatorisch hörbar heiklen Passagen der Wagner-Tuben. Eine geniale Idee aber, die im letzten von Bruckner vollendeten Satz aufgestoßene Pforte in die Moderne beim Worte zu nehmen. Ohne Einschnitt ließ Currentzis einen Klassiker der Neuen Musik folgen, György Ligetis „Lontano“ von 1967; ein Orchesterwerk, das gestalthafte Gesten wie ein Klang-Mobile durch scheinbar statische Flächen haucht, damit Aspekte von Bruckners Ästhetik aufgreift und radikalisiert. Mit der Mikroskopie feinster Übergänge knüpften Currentzis und die SWR-Sinfoniker das in sich verflochtene Band der Einzeltöne und Tonkomplexe - bis hin zum hoch konzentrierten Verklingen ins Unhörbare. Fürs Hörbare setzte die Kraft solch gespannter Ruhe das finale Zeichen: Sie ist die Energie, mit der Currentzis dem Klang bis ins Extrem folgt, bis in die glühende Verschmelzung von Expressivität und musikalischem Verstand. Wurde sie in diesem Konzert auch nicht immer vollkommen realisiert, hörte man doch die Perspektive.