Als Auftragsarbeit der Kunsthalle Tübingen entstanden: Irene Andessners Tableau vivant „Art Protectors“ Quelle: Unbekannt

Boris Palmer im Zentrum eines altmeisterlich angehauchten Gruppenporträts? Irene Andessner macht es möglich. Ein Signal zum Aufbruch – auf dem Umweg über die Vergangenheit.

TübingenBürgerlicher Stolz wird in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Niederlanden zur gemalten Währung. Man zeigt sich gerne als gut überschaubare Gruppe. Waffenlose Musketiere, die sich in ihrer zur Schau gestellten Verantwortung doch gleichwohl weder über die ihnen anvertrauten Menschen noch über die ihnen anvertrauten Themen erheben.

Der Stolz des Dienens ist Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer nicht wirklich ins Gesicht geschrieben. Und so gerät denn auch das „lebende Tafelbild“, mit dem die Österreicherin Irene Andessner die Ausstellung „Comeback. Kunsthistorische Renaissancen“ eröffnet, gehörig ins Wanken. Jedoch, die Szene hält, der Auftritt „Eine Zukunft für die Vergangenheit“ kann beginnen.

Ist dieser aber gerade jetzt künstlerisch begründet? Kommt dieses Projekt nicht gar deutlich zu spät, greift es nicht zu kurz? Auf solche Einwände, scheint es, hat Tübingens Kunsthallendirektorin Nicole Fritz nur gewartet. Nein, hier ist nicht etwa der tiefe Ernst der Szenerien von Clegg & Guttmann aus den späten 1980er Jahren gefragt. Es geht nicht um die heilige Überzeichnung einer Kleingruppe und deren fast skulpturale Abstraktion.

Mit viel Ironie unterlaufen die in „Comeback“ versammelten Künstlerinnen und Künstler jedwede Kunst-Heiligkeit. Und das meinen sie ernst. Braucht es die Alte Kunst, um der Gegenwart eine Chance auf Zukunft zu geben? Ist die Alte Kunst vielleicht gerade jene Zeitmaschine, durch deren Strategien hindurch für die Zukunft eine andere Gegenwart möglich ist? Und: Haben wir vor lauter detaillierter Interpretationsfreude vielleicht die Radikalität manch scheinbar nur mehr berühmter Bildszenerien nur zu gerne übersehen? Fragen wie diese kennzeichnen eine zeitgenössische Sicht etwa auf die Absicherung der Ideologie der „Neuen Welt“ über das Bild-Erleben in einer Aneignung europäischer Landschafts- und Genremalerei. Fragen wie diese bestimmen nun auch das „Comeback“-Panorama. Und zugleich verraten die Titel der Themenblöcke den Blick eigener Zeitgenossenschaft: „Aneignung als Reanimation“, „Aneignung als Identifikation“ oder „Aneignung als Partizipation“ heißt es da.

Tübingens Kunsthallenlenkerin Nicole Fritz macht so schon zum Auftakt deutlich, dass sie die Diskussion über die Aneignung als Strategie der Gegenwartskunst nicht den auch schon Geschichte gewordenen 1980er und frühen 1990er Jahren überlassen möchte. Die Aneignung hatte einen Namen: Appropriation Art. Ob in den Arbeiten der New Yorkerin Louise Lawler, von Richard Prince oder Sherrie Levine – immer mischte sich in das Bemühen, in neuen Dialogen scheinbar bekannter Begriffe, Gegenstände oder Abläufe der Versuch, das System Kunst zu hinterfragen, Mechanismen offen zu legen.

Ist Konzept-Kunst möglich, indem man nicht nur etwas filtert, wegnimmt, sondern auch dadurch, dass man etwas hinzufügt? Die Fragestellungen in John Baldessaris Seminar am California Institute in Los Angeles lockten Künstlerpersönlichkeiten wie Barbara Bloom, Ross Bleckner oder Eric Fischl, aber auch den bei der Weltkunstausstellung Documenta IX, 1992 in Kassel, groß gefeierten Matt Mullican und David Salle. Von Anfang an dabei ist auch Cindy Sherman. Und ähnlich wie Hans Peter Feldmann und Wim Delvoye agiert Sherman in „Comeback“ als eine Art Kronzeugin. An der Schärfe ihrer um 1989 entstandenen Neuformulierungen niederländischer Porträtmalerei kommt man mit dem Ausstellungsthema nicht vorbei – wohl wissend, dass der Aneignungszug weitergerollt ist und bewusst die globalen Warenwirtschaftslinien nutzt.

1999 lässt sich der in Berlin und in New York lebende und an der Stuttgarter Kunstakademie lehrende Christian Jankowski von Fernseh-Wahrsagern italienischer Privatsender seine Zukunft als Künstler voraussagen. „Telemistica“ heißt die Arbeit, zuletzt 2016 als Höhepunkt der Schau „Der Zufall in der Kunst“ im Kunstmuseum Stuttgart präsentiert. Das mit dem Erfolg hat für Jankowski geklappt – und so bleibt zuletzt die Marktlogik, scheinbar Bekanntes leicht variiert über die Hintertür des Welthandels wieder in den sehr engen Kunstmarkt zu bringen.

Aus dem Internet gezogene Fotos gestellter Altmeister- und Moderne-Bilder fügen sich in Tübingen als (Auftrags-)Meisterwerke chinesischer Malerinnen und Maler frisch ausgepackt zum Szenario „Neue Malerei“. Da nimmt einer den Fuß vom Digital-Gas, spielt die Widerstandsfähigkeit der Malerei gegen das Tempo der Pixel aus – und macht doch unmissverständlich deutlich, dass die industriell-manuelle Bildproduktion sieht (und malt), wie es der Smartphone-Ausschnitt eben zulässt. Im Rückgriff auf den Bilderkanon der europäischen Kunstgeschichte fragt Christian Jankowski ironisch, aber doch präzise nach der Gültigkeit der Bildwelten der Gegenwart und deren Bedeutung für eine Konstruktion von Zukunft, die zuvorderst aus Übersetzungen besteht. Yinka Shonibare CBE geht noch einen Schritt weiter, wenn er mit bildnerischen Mitteln nach der Mitverantwortung der europäischen Malerei beim wirtschaftlichen Raubzug durch Südamerika und Afrika fragt. Yinka Shonibare CBE dreht die Aneignung um, nutzt das allgemeine Bild- und Bildungsgedächtnis, um in einer Art Besetzung eine Grundlage dafür zu schaffen, in der Gegenwart Dekolonialisierung nicht als bloßes Umschreiben von Werten zu diskutieren. In genau diesem Zusammenhang ist allein schon Chantal Mitchells Fiktion einer wehmütig erinnerten bäuerlichen Identität den Besuch von „Comeback“ wert. Und versteckt, aber leicht zu finden, geht es in dieser Ausstellung um die Zukunft für eine Idee, die es in der jüngeren Vergangenheit schon leichter hatte: Europa.

Zu sehen ist die Ausstellung „Comeback. Kunsthistorische Renaissancen“ bis zum 10. November (Di bis So 11 bis 18, Mi 11 bis 19 Uhr). Der Eintritt kostet 8 Euro (ermäßigt 5 Euro).