Abstand halten: Birgit Unterweger als Glitter-Flittchen Célimène und Christian Czeremnych als Menschenfeind Alceste. Foto: Björn Klein Quelle: Unbekannt

Von Martin Mezger

Stuttgart - Klar, diese Party geht weiter, seit Molière im Sommer 1666 zum Bal paré der Schleimer und Heuchler, der Aufschneider und Eingebildeten, der Intriganten und Speichellecker geladen hat. Alles Leute, die nicht ganz oben, aber sozial gehoben sind. Diesem Gesocks, das sich einst „bessere Gesellschaft“ nannte, liest einer die Leviten, der in gesteigerter Wahrnehmungsheuchelei ein Sympathieträger sein könnte. Denn selbstverständlich halten wir es alle mit ihm, dem Anwalt der Wahrheit und Ehrlichkeit, der ungeschönten und kritischen Worte. Es sei denn, sie treffen uns selbst. Dann verkehrt sich die Liebe zur Wahrheit flugs in beleidigte Leberwurst. Nicht anders als beim Rest der angeprangerten Sozietät. Ethischer Überlegenheitsdünkel ist ein Egalitätsprinzip. Das schlägt auf den Kritiker zurück.

Gültig wie eh und je

Molières dramatische Redlichkeit zeichnet daher den Menschenfeind der gleichnamigen Komödie nicht als Sympathieträger, sondern als alles mögliche: Gesellschaftskritiker, gewiss - aber auch Griesgram, Moralapostel und Möchtegern-Aussteiger, selbstgerechten Wichtigtuer, gnadenlosen Narzissten und letztlich Teil der menschlich-allzumenschlichen Verstrickungen, die er verachtet. Das Ende ist bitter und offen, das Gesellschaftsporträt gültig wie eh und je für heutigen Start-up-Karrierismus, für Belegschaftschemien und private Umgangsmarotten, für Prestigefimmel, Klatsch und Online-Tratsch und für die Spielarten modisch-arroganter Soziophobie.

Für all das samt der psychologischen Finessen interessiert sich der Regisseur Wolfgang Michalek nicht die Bohne. Bei ihm geht nur die Party weiter. In der letzten Saisonpremiere des Stuttgarter Staatsschauspiels wird gut gelauntes „Sommertheater“ ausgerufen, im Foyer des Schauspielhauses hat Raumgestalter Julian Marbach vor einen hellblauen Theatervorhang ein Podium aus Bühnenbrettern gestellt, die nicht die Welt, sondern in ironisch-larmoyanter Selbstbezüglichkeit die eigene Performance meinen. Öffnet sich jener Vorhang, blickt man in einen großen Spiegelwinkel: Sinnbild des Jahrmarkts der Eitelkeiten, aber vor allem Signal entschiedener Selbstbespiegelung. So entpuppt sich der im Programmheft angekündigte „Special Guest“ gleich eingangs als Schauspielerin Rahel Ohm, die mit Armin-Petras-Mütze den noch eine Saison amtierenden Schauspielintendanten travestiert und eine Art Prolog in der Stuttgarter Publikumshölle anstimmt: Man habe doch „Komödie gespielt und Berliner Charme versprüht“, Stücke zertrümmert und wieder zusammenmontiert, aber - es wurden halt etliche kalte Zuschauerschultern gezeigt. Ein Rührstück in eigener Sache? Gemach. Es wirkt denn doch selbstironischer als in der Nacherzählung.

Dann legt sich der wackere Pianist Michael Lieb vehement ins Zeug und auch mal in die Tasten, Madame Célimène alias Birgit Unterweger kündigt sich aus dem Off wie eine abgehalfterte Pop-Diva an („ich bin gleich bei euch“), schwebt mit dem Lift ein und - singt. Turtelt mit Pianist und Publikumsherren. Macht Vamp und Femme fatale. Schwärmt vom Studenten, der „seinen letzten Groschen Bafög zusammenkratzt“ für ein Abendessen mit ihr. Nettes Revue-Kabarett also, könnte ewig so weiterplänkeln. Nur: Wo bleibt Molière?

Irgendwann biegt die Party doch in die Textspur ein, und wir erfahren: Célimène ist die Geliebte des Menschenfeinds namens Alceste; merkwürdig, dass der überhaupt eine Geliebte hat, doppelt merkwürdig, weil sie alles verkörpert, was er verabscheut - Männerverschleiß, laszive Tricks, das Wesen der Salontigerin. Doch nichts liegt Michaleks Regie ferner, als das Beziehungsrätsel zu deuten.

Rabiat reduziert

Auch wenn „Menschenfeind“ draufsteht, ist in in der Inszenierung wenig „Menschenfeind“ drin: Rabiat reduziert auf einige Textknochen und das grobe Handlungsskelett wird das Stück benützt als Varieté-Stützkorsett, das Liedgut von Claire Waldhoffs „Warum liebt der Wladimir g’rade mir“ über Friedrich Hollaenders „Keiner weiß, wie ich bin, nur du!“ bis zu Marlene Dietrichs „Bester Freundin“ und vielen goldig verblichenen Gassenhauern mehr in dralle Theaterform bringt. Aber: Der Etikettenschwindel hat sein Amüsierpotenzial. Und das speist sich aus der darstellerischen Lust am Gebrauchswert der umformatierten Charakterkomödie. Alles wird zum Sprungbrett - nein, wahrlich nicht für Rollenspiel, sondern für grelles Chargieren und Outrieren, albernes Posieren und groteskes Parodieren. Madame Unterweger rauscht und raunt, glitzert und kokettiert, segelt wie eine frivole Fregatte durch den Begattungsozean, in welchem die Stück-Sozietät laut einem einsamen Regiehinweis wie die Titanic dümpelt. Und dann doch nicht sinkt. Am Ende geht einfach das Licht aus, und Menschenfeind Alceste ward’s trüb im Gemüt. Kein Wunder: Unterweger stiehlt ihm die Show mit ihrem geballten Charme, gewürzt durch ein paar gezielt dosierte nervöse Ticks. Derweil sieht Christian Czeremnych - strähniges Langhaar, senfgelber Anzug mit über den Bauchnabel gezogener Hose - so daneben aus, wie sein Alceste sein soll. Und hält virtuos linkisch mit zorniger Jungmänner-Miene, Eifersuchts-Veitstanz auf Disco-Stiefeln und eitler Fatzke-Manier dagegen: karikiertes Pop-Posing des Weltverdrusses.

Was hier gespielt wird, sind Demo-Piècen staatsschauspielerischen Comedy-Vermögens: lustig, belanglos - und manchmal eine Wucht. So bei Lucie Emons als - inklusive Zahnlücken-Implantat und Horrorbrille - konsequent verhässlichte Schreckschraube Arsinoé. Wenn sie, rallig und intrigant hinterm Panzer der Sittlichkeit, losröhrt, wackeln fürwahr die Wände. Weniger wuchtig Peer Oscar Musinowski als Alcestes Nebenbuhler und so schauerlicher wie eingebildeter Underground-Poet Oronte: Er bleckt das Gebiss wie ein Ackergaul und mimt den hilflosen Zornickel, aber der Witz bleibt begrenzt.

Michaleks Lachnummern-Kabarett selbst ist nur dann grenzenlos, wenn es sich in vereinzelten Song-Momenten öffnet für poetische Zwischentöne. Da hallt denn doch etwas mit und nach, was sonst gestrichen ist: Molières Melancholie und emotionale Wahrhaftigkeit.

Die nächsten Vorstellungen: morgen sowie 12., 14., 16., 18. und 20. bis 22. Juli.