Von Verena Großkreutz

Stuttgart - In Felix Mendelssohn Bartholdys Oratorium „Paulus“ ist die göttliche Stimme weiblich. Ein vierstimmiger Frauenchor singt in der Bekehrungsszene, in der Saulus zum Paulus mutiert, die entscheidenden Worte: „Saul! Saul! Was verfolgst du mich?“ Eingebettet in lichte fis-Moll-Bläserakkorde scheint der Ruf aus mystischer Ferne zu kommen. Weich und leuchtend der Klang der Sopran- und Altstimmen, ebenso fügen sich die Bläser ein. Für Frieder Bernius und seinen mendelssohnerprobten Kammerchor Stuttgart ist das eine Steilvorlage in Sachen plastischer Gestaltung, Farbigkeit und Spannung, die man im Hegelsaal der Stuttgarter Liederhalle gekonnt zur Vollendung bringt. Wie das gesamte zweieinhalbstündige Werk. Von der luzide und geschmeidig ausgeführten Ouvertüre bis zum prachtvollen Schlusschor bleiben die Ohren im Hörsog-Modus. Der riesige Spannungsbogen ist straff - auch dank der perfekten Tempodramaturgie des Dirigenten, der zielgerichteten Steigerungen, der Balance von lyrischem Meditieren und fulminanter Dramatik.

Bernius kann sich da nicht nur auf seinen Chor, sondern auch auf die Klassische Philharmonie Stuttgart verlassen. Nicht nur die Blechbläser-Fraktion hat an diesem Abend viele exzellente Einsätze, wenn sie etwa im Choral „Wachet auf! Ruft uns die Stimme“ der quirlig-lebendigen Streicherbegleitung eine Schaumkrone aufsetzt: Fluffiger, leichter können Weckruf-Fanfaren nicht klingen.

Der Kammerchor ist in Bestform, der „Paulus“ ein sehr chorforderndes Werk, in dem Bach und Händel hörbar Pate gestanden haben, selbstverständlich in romantisches Licht getaucht. Entspannt und rein gelingen die schlichten Schönklang-Choräle, dramatische Kraft puscht die dissonierenden und rhythmisch wild peitschenden Volkschöre, die erst die Steinigung des Stephanus fordern, später dann ihre Wut auf Paulus münzen. Deutlich und farblich abgesetzt fördern die einzelnen Stimmgruppen jede polyphone Finesse zutage, wenn es in komplexe Kontrapunktik und ihre subtilen Steigerungen geht. Von erlesener Schönheit sind die A-cappella-Passagen wie in der nazarenisch-weichen Chorelegie „Siehe, wir preisen selig“. Wer einmal solch luziden, hell timbrierten, geschmeidig geführten Klang gehört hat, dürfte bei romantischer Chormusik nichts anderes mehr hören wollen.

Auch die Solisten machen ihre Sache ganz vorzüglich. Den Erzählpart - die Geschichte von Saulus, der sich vom Christenhasser zum Paulus, zum treuen Gefolgsmann der Lehre Jesu Christi wandelt - teilen sich Sopran und Tenor. Mit warmem, dunkel timbriertem Sopran nimmt Johanna Winkel in den lyrischen Arien gefangen, etwa im mild leuchtenden „Jerusalem, die du tötest die Propheten“. Packend ihre Darstellung der dramatischen Ereignisse. Auch Tenor Ilker Arcayürek, der sich nach anfänglichen intonatorischen Problemchen nach und nach frei singt, offenbart immer emphatischer seine innere Anteilnahme am Schicksal des Paulus. Und Thomas E. Bauer, der nicht nur die Titel-Partie singt, zieht dank satter, farbenreicher Bassstimme in Bann. Und so geht das kompositorische Kalkül perfekt auf an diesem am Ende bejubelten Abend - einer konzertanten Sternstunde.