Welcome Wagner: Szene aus „Wir Mädel singen“ mit (von links) Sabine Bräuning (Imogen Bringschuldt), Nina Mohr (Chantal Schleiss) und Gesine Hannemann (Elisabeth Wehmeyer-Püthe). Foto: Patrick Pfeiffer Quelle: Unbekannt

Von Verena Großkreutz

Esslingen -„Denk‘ ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“, dichtete Heinrich Heine im Pariser Exil, um seiner Sehnsucht nach einem besseren, menschlicheren Deutschland ironisch gebrochen Ausdruck zu verleihen. Heine war auf der Flucht vor dem deutschen Ungeist: der gefährlichen Mixtur aus Überheblichkeit, Minderwertigkeitsgefühlen, diffuser Angst und Irrationalität. Und niemand konnte diesen Ungeist genauer auf den Punkt bringen als er: „Der Patriotismus des Deutschen besteht darin, dass sein Herz enger wird, dass es sich zusammenzieht, wie Leder in der Kälte, dass er das Fremdländische hasst, dass er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Teutscher seyn will.“ Wie aktuell diese Worte von 1835 geblieben sind, zeigte sich vorgestern am Wahlabend, als die stellvertretende Bundesvorsitzende der AfD von Storch ihren Parteifreunden zurief, man müsse endlich „den Spruch 'Refugees welcome' wieder zu dem machen, was er einmal war: ein Spruch von linksradikalen Spinnern“.

„Hoch zivilisierte Kultur“

„Refugees welcome“ zierte am selben Abend als bunte Girlande das Klavier auf der Podiumsbühne der WLB Esslingen. Als Kontrapunkt zum Wahlabend gab es die Premiere der Lieder-Revue „Wir Mädel singen. Eine deutsche Angelegenheit“, 1993 geschrieben und uraufgeführt von der großen Schauspielerin und Kabarettistin Ortrud Beginnen. Eine Punktlandung, wie man sagen muss: vom Schock über den Rechtsruck im deutschen Parlament sofort hinein in die theatrale Analyse der Gegenwart. Dafür hat das Team um Regisseur James Lyons Ortrud Beginnens doppelbödigen Theaterabend, der aus der Zeit der rechtsradikalen Brandangriffe auf Asylbewerberheime in Solingen, Mölln, Hoyerswerda und Rostock stammte, in die heutige Flüchtlingsthematik verlegt und die Texte entsprechend aktualisiert. Die Bühne (Nina Hofmann) ist nun eine öde Turnhalle mit Stockbetten, die Zuschauer sind bald in die Rolle der Flüchtlinge abkommandiert. „Willkommen in Deutschland! Liebe Flüchtlinge und Flüchtlinginnen! Wir hoffen, Sie sind uns nicht allzu böse, dass wir Sie hier in Ihrem 'Lager' heute überfallen haben. Aber in gewisser Weise haben Sie das auch bei uns gemacht.“

Auf der Bühne drei Damen, die den gerade Angekommenen einen Einblick in die „hoch zivilisierte, deutsche Kultur“ samt Verhaltenstipps geben wollen: Die Immobilienmaklerin Imogen Bringschuldt im adretten Kostüm (Sabine Bräuning), die ehemalige Mitarbeiterin eines Tierasyls Chantal Schleiss im olivgrünen Parker (Nina Mohr) und die Grundschullehrerin Elisabeth Wehmeyer-Püthe (Gesine Hannemann), anthroposophisch angehaucht in derben Schuhen, Wolljacke und mit Pudelfrisur. Im Mittelpunkt stehen eben nicht die aggressiven, Brandsätze werfenden Glatzköpfe, sondern deutsche Gutmenschen in Gestalt wohlmeinender, vom Gedanken an die deutsche „Leitkultur“ getragener, scheinbar fremdenfreundlicher Vertreterinnen der bürgerlichen Mittelschicht: „Wir sind bereit, alles mit ihnen zu teilen. Sie müssen aber auch 'Brötchen' und 'bitte' sagen.“ Im Laufe ihres bunten Willkommens-Abends werden sie in ihrem emsigen, unreflektierten Aktionismus nach und nach scheitern und sich als „enge Teutsche“ selbst entlarven. Inspiriert wird der Abend von Sammlungen deutscher älterer Lieder, welche die Nationalsozialisten samt eigenen Propagandaliedern verwendeten, um sie überall und zu jedem Anlass singen zu lassen, etwa das BDM-Liederbuch „Wir Mädel singen“.

Lieder wie die reichsoffiziellen Durchhalte-Schlager von 1944 „Schau nicht hin, schau nicht her, schau nur grade aus / Und was dann auch kommt / Mach dir nichts daraus“ oder „Wir schaffen das schon!“, das natürlich mit rautengeformten Händen getanzt wird, sind nur ein kleiner Teil des Parforceritts durch deutsche Sangeskultur: Mit Elan hoppeln die drei als Walküren über die Bühne, Wagners „Winterstürme wichen dem Wonnemond“ auf den Lippen, melancholisch singt Wehmeyer-Püthe am Lagerfeuer „Ich bin ein deutsches Mädchen / Mein Aug' ist blau, und sanft mein Blick“, in Lederhose und Dirndl wird Schuhplattler getanzt zum Erzherzog-Johann-Jodler, bis sich Chantal derart in einer Pirouette verdreht, dass sie ohnmächtig umfällt.

„Ich bin dein Baum, o Gärtner“

Ätherische Schleiertänze samt sterbendem Schwan folgen sentimentalen Heimatliedern, bei denen die drei vergessen, für wen sie da eigentlich singen. Da berührt einen selbst „Hänschen klein ging allein“ ungeheuer peinlich. Das skurrile Ballett zum pathetisch vorgetragenen Goethe-Gedicht „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!“, zu dem der Mann am Klavier und musikalische Leiter des Abends, Oliver Krämer, Beethovens Mondscheinsonate intoniert, wirkt schon bald sehr bedrohlich. Man quasselt von deutschen Musen, tiefer deutscher Unverständlichkeit und vom Unbewussten. Und weil „der deutsche Mensch ohne seinen Wald undenkbar“ ist, gibt’s ein Kunstlied von Robert Schumann, „der es ja auch nicht immer einfach hatte“: „Ich bin dein Baum, o Gärtner“, singt Chantal inbrünstig und eingekleidet in Äste und Blätterwerk, während sie Wehmeyer-Püthe mit Gießkanne umzirzt.

Der Abend lebt vom draufgängerischen, lustvollen Spiel der drei Frauen, urkomisch in ihrem zur Schau gestellten Dilettantismus, der unbarmherzig den überheblichen Glauben der Bühnenfiguren an eine deutsche Über-Kultur demontiert. Und Sabine Bräuning, Nina Mohr und Gesine Hannemann zeigen auch im wohlklingenden Chorgesang, wie musikalisch sie sind. Ein überzeugender Abend, der für die WLB zum Dauerbrenner werden könnte. Unbedingt reingehen!

Die nächsten Vorstellungen: 6., 15. und 29. Oktober sowie 11., 22. und 24. November.