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Voller Spielwitz und Charme, Schwung und Poesie inszeniert James Lyons an der Esslinger Landesbühne die Geschichte von „Urmel aus dem Eis“ nach Max Kruses Kinderbuchklassiker für Zuschauer ab vier Jahren. Finale Botschaft nach Abenteuern, Kabbeleien und überstandenen Gefahren: Gemeinsam sind wir stark.

EsslingenDie anderen können ganz schön nerven. Da ist man schon mal reif für die Insel. Oder für die Muschel, in der man sich verkriechen möchte wie Wawa Waran. Nicht besser geht es dem Professor Habakuk Tibatong, der sich ob seiner kühnen Thesen von der neidischen Fachwelt geschmäht sieht: Ein evolutionäres Bindeglied zwischen Dinosaurier und Säugetier will er entdeckt haben. Unsinn, sagen die Kollegen, und mobben ihn aus dem Museum, wo er in Führungen seine Theorie verbreitete. Bleibt ihm nur die Flucht auf das Südsee-Eiland Titiwu, wo er in Ruhe weiterforschen kann. Aber Alleinsein bringt’s auf Dauer auch nicht. Deshalb gründet der Professor, der schon seinem Hausschweinchen Wutz das Sprechen beigebracht hat, auf Titiwu eine Sprachschule für Tiere.

Max Kruses „Urmel aus dem Eis“ ist eben auch eine große phantastische Geschichte über die ewigen Trennungen zwischen Räumen und Zeiten, Menschen und Tieren, Erwachsenen und Kindern und Erwachsenen untereinander. Und über die Überwindung der Trennungen. Genau in diesem Sinne hat James Lyons den Kinderbuchklassiker im Schauspielhaus der Esslinger Landesbühne (WLB) inszeniert – für Zuschauer ab vier Jahren, mit wohldosierter Action und viel Witz (dass die Jüngsten wohl nicht alle Gags verstehen: macht nichts, dafür haben die mitgenommenen Eltern auch was zu lachen).

Lockenkopf und Weißkittel-Trio

Es beginnt mit einem veritablen Wissenschaftler-Konflikt im Museum, das Bühnen- und Kostümbildnerin Esther Bätschmann mit großen Vitrinen und plötzlich höchst lebendig vom Podest stürmenden Steinzeitmenschen zeigt. In einer der Vitrinen: ein Urmel-Ei, wie es später tiefkühlkonserviert direkt aus der Urzeit den Beweis für Tibatongs Theorie erbringen wird. Doch einstweilen hat der Professor – ein stotternd-lockerer Lockenkopf in Jackett und Rolli (Timo Beyerling) – keine Chance gegen das steife Weißkittel-Trio, das unter Führung von Museumschef Dr. Zwengelmann (Julian Häuser mit nölend Wienerischem Akzent) ihn und seine Forschungen lächerlich macht. Und Schweinchen Wutz unverfroren zur Schlachtung empfiehlt; obwohl doch Franziska Theiner ganz trefflich eine saumäßig reinliche Hausmamsell mit putzigem Wischmopp-Fimmel, ansteckendem Sprachfehler und spät erwachenden Urmel-Muttergefühlen spielt.

Auf Titiwu – nichts anderes als Bätschmanns wundersam verwandeltes Museum – findet sich dann eine tierisch-allzumenschliche Sozietät der gemeinsam Einsamen: Muschel-Einsiedler Wawa (ebenfalls Julian Häuser) verwehrt dem kessen Ping Pinguin (Alessandra Bosch mit roter Nase und Gletscherbrille) den zweisamen Platz unter der Schale, und der Seelefant (Daniel Großkämper) macht aus seiner Melancholie ein tänzelndes Lebensprinzip („Traurigsein ist lustig“) samt snobistischer Poeten-Arroganz und röhrender „Motter“-Sprache. Tja, die Aussprachefehler kann auch der teilzerstreute Professor, der selbst mal vom „versteckbaren Wunder“ radebrecht, seinen Schülern nicht austreiben. Zwangloser (und lustiger) pädagogischer Mehrwert: Ältere Kinder erkennen im „tierischen“ Spracherwerb den der jüngeren Geschwister.

Jenes „wunderbare Versteck“ wiederum ist vonnöten, nachdem das per Eisberg angeschwemmte Urmel aus dem Eis gebrochen und dem Ei gekrochen ist: ein „Mama“ greinendes, dann frech pupsendes Menschenwesen mit Saurier-Schuppenschwanz (Mira Leibold). Aber der Triumph der Theorie bereitet in der Praxis massive Probleme. Denn zur Urmel-Jagd bläst der abgesetzte König Futsch, und den gibt Daniel Großkämper nicht als Relikt aus der Ur-, sondern der Feudalzeit: sonnenköniglich französelnd, ein Schnell-Checker, wenn’s kompliziert, ein Null-Blicker, wenn’s einfach wird – großartig. Klar, vor dem royalen Ballermann braucht es das Versteck: in der dampfenden Lachgas-Höhle mit dem gruseligen Monster.

Mit Schwung, Charme und Poesie

Am Ende – nur so viel sei verraten – gibt es einen Ehrenprofessor, einen Welterbe-Titel und eine Botschaft: Gemeinsam sind wir stark. Den Weg dorthin geht Lyons’ Regie voller Charme, Schwung und Poesie. Wozu Oliver Krämers Musik einen grandiosen Beitrag leistet – mit Rock, Rap und Revue, mit Anleihen von der „Tannhäuser“-Fanfare über die Augsburger Puppenkiste bis zum Velvet-Underground-Glockenspiel. Und doch ganz eigenständig hin- und mitreißend.

Die nächsten Vorstellungen: 15., 22. und 26. Dezember sowie 19. Januar. Außerdem zahlreiche Schulvorstellungen.