Die S-21-Baustelle Foto: Dominique Brewing - Dominique Brewing

Dutzende von Kulturinstitutionen und zahlreiche Bürger sind beteiligt: Das Projekt „Motor City Super Stuttgart“ von Schorsch Kamerun entwirft mitten in der Stuttgart-21-Baustelle am Hauptbahnhof Szenarien zwischen Utopie und Beklemmung.

StuttgartWas, die Bahn lässt die Protestler wirklich mitten rein in die S-21-Baustelle? Über mehrstöckige Metalltreppen geht es vom Turm des Stuttgarter Hauptbahnhofs hinunter in die weite Grube. Wie elegante Pavillons spannen sich die riesigen Kelchstützen aus Beton über den Stuttgarter Philharmonikern und über dem Publikum, das mit seinen blau leuchtenden Kopfhörern selbst zur futuristischen Installation wird.

Was für eine grandiose Bühne. Genau wie die riesige Baustelle ist auch das Stück „Motor City Super Stuttgart“ eine organisatorische Meisterleistung, denn ausweislich des Programmhefts sind ein Dutzend Kulturinstitutionen daran beteiligt, vom Theater Rampe übers Staatstheater und die interdisziplinäre InterAKT-Initiative bis zur Akademie Schloss Solitude, außerdem zahllose engagierte Bürger vom Laienchor bis zur Urban-Gardening-Initiative. Den Aufwand an Mensch und Material haben Punk-Legende Schorsch Kamerun, Erfinder des Ganzen, und Dirigentin Viktoriia Vitrenko im Griff, gespielt wird bis hinauf zu den Baucontainern und bis ganz hinten zu den Gleisen des Kopfbahnhofs. Orchester, Sänger und Sprecher sind nur über Kopfhörer zu verstehen, die passenden Hintergrundgeräusche sind echt: „Ungeschützte Realness“, schwärmt der Investor mit Bauhelm, den Schauspieler Robert Rozic so selbstzufrieden wandeln lässt.

Die Wunde ist mitten in die Stadt gerissen: Was könnte man nun daraus machen, fragt Schorsch Kamerun und projiziert mit seinen vielen Mitspielern einen Abenteuerspielplatz in das riesenhafte S-21-Loch. Schubkarrenweise werden Pflanzen hinaus auf den Beton gekarrt, das urbane Leben blüht: Man könnte dort heiraten, flanieren, joggen, die Grube fluten. Ein Mandala wird aus Sand gestreut, neben der Uralt-Schildkröte Lonesome George, dem letzten seiner Art, kommen ein Astronaut und Obelix mit ein paar spinnenden Römern vorbei: Der Abend schüttet uns zu mit Bildern. Stadtexperten führen einen ernsten Diskurs, wie überdimensioniertes Kinderspielzeug werden ein Regenbogen, ein Wunderbaum oder eine Kathedrale aufgeblasen. Auch die von Kamerun komponierte Musik ist eine bunte Collage, die das Repetitiv-Maschinenhafte der Minimal Music mit Filmmusikpathos und ein paar kritischeren Kurt-Weill-Klängen vermengt. Immer wieder legt der Sänger seine nachdenklichen Texte übers Orchester, Sopranistin Josefin Feiler singt Händel und, als Schmetterling, Henry Purcells Arie von der Kälte.

Die Vision einer menschenleeren Motor City taucht als Schreckensbild auf, Stuttgart drohe, ein zweites Detroit zu werden. Aber trotz der guten Texte bereitet der Abend keine Schmerzen. Die „dystopische Sinfonie“ kann ihren collagenhaften Bürgerfleiß nicht in Zynismus umsetzen, die selbsternannten Mutmacher kommen nicht gegen den Weltuntergangs-Grandeur der klaffenden Wunde an. Am Ende zitiert Kamerun den Club of Rome, der schon 1972 nachdrücklich vor den „Grenzen des Wachstums“ gewarnt hat. Und sehenden Auges sind wir trotzdem da gelandet, wo wir heute sind.

Als Kunstereignis ist „Motor City Super Stuttgart“ großartig, bunt und kontrovers. Aber als Protest gegen ein viel zu teures Bauprojekt bleibt die Revue am Originalschauplatz sinnlos. Generös lässt der Bauherr die Gaukler ein wenig dort spielen, bevor er den Deckel drauf macht.

Die weiteren Vorstellungen an diesem Samstag und Sonntag sind ausverkauft.