Der Pädagoge denkt fortschrittlicher als seine Schüler (von links): Laurenz Laufenberg, Jörg Hartmann als Lehrer, Bernardo Arias Porras und Moritz Gottwald Foto: Arno Declair - Arno Declair

Mit historischem Tiefgang inszenierte Thomas Ostermeier Ödön von Horváths „Jugend ohne Gott“. Seine Bühnenfassung verortet den Plot im Kontext des Nationalsozialismus. Zugleich legt der Regisseur aber die Wunden einer Generation ohne Perspektive offen.

SalzburgMit einer provokanten Frage schockt der Lehrer das Publikum im Landestheater Salzburg: Was verdanke ich Adolf Hitler? Jobs für Arbeitslose, Größe, heile Familien – die Bekenntnisse eines Gleichgeschalteten aus dem Jahr 1935 stellt Regisseur Thomas Ostermeier als Prolog vor seine Inszenierung von Ödön von Horváths „Jugend ohne Gott“. Bei den Salzburger Festspielen verortet er den Roman, der 1937 in einem Exilverlag veröffentlicht wurde, in der Zeit des Nationalsozialismus. Obwohl Horváth diesen Hintergrund verschlüsselte und vom Staat der „reichen Plebejer“ sprach, ist er doch in seiner Erzählung offensichtlich. Ostermeier rückt die düstere Zukunftsvision des österreichischen Autors, der am 1. Juni 1938 auf den Pariser Champs-Elysées von einem Ast erschlagen wurde, in den historischen Kontext. Die Schüler, von deren Denken die Diktatur zunehmend Besitz ergreift, käuen Thesen wieder, die auch aus den Programmen rechtsextremer Parteien von heute stammen könnten.

Wie leicht Menschen in einer gleichgeschalteten Gesellschaft die eigene Meinung und auch ihr Gewissen verlieren, führt Jörg Hartmann als Lehrer vor. Schon mit 34 Jahren träumt dieser Pädagoge von Pensionsansprüchen. Seine Bemerkung, dass Afrikaner auch Menschen sind, petzt der Schüler N. seinen Eltern. Die setzen den Lehrer so lange unter Druck, bis er sich nur noch hinter schwammigen Thesen versteckt. Sensibel und stark führt der Grenzgänger in der Koproduktion der Festspiele mit der Schaubühne in Berlin vor, wie der Wille eines Menschen gebrochen wird. Schließlich wird der Pädagoge selbst zum Spitzel. Heimlich liest er das Tagebuch des Schülers Z. Großartig kehrt Hartmann die sexuelle Verklemmtheit des Mannes nach außen, der seine Ideale in der Diktatur zerfallen sieht. Dass er fortschrittlicher ist als seine Schüler, zeigt Horváth stark. „Die Ansichten des Herrn Lehrers waren mir oft zu jung“, lässt er den Schüler Z sagen.

Horváths Roman reflektieren Thomas Ostermeier und Florian Borchmeyer in ihrer klaren, sprachlich starken Bühnenfassung im zeitgeschichtlichen Kontext. Videos von Sébastien Dupouey blenden historische Filmdokumente ein, wecken Emotionen. Die Theaterfassung zielt denn auch nicht primär auf Ideologien oder auf historische Bezüge. Immer haben Ostermeier und Borchmeyer die jungen Menschen im Blick, die in der Diktatur ihre Identität verlieren. Jan Pappelbaums Bühne ist ein Wald mit kahlen Stämmen. Da verirren sich die Halbwüchsigen. Bis schließlich einer von ihnen, der Schüler Otto N., zu Tode kommt. Damir Avdic spielt die Rolle eines willenlosen Mitläufers überzeugend, doch ohne Biss. Erich Schneiders subtile Lichtregie verwandelt die Zeltlager-Romantik zunehmend in eine geistige Hölle, in der einer der Jungen zum Verbrecher wird. Angelika Götz hat Kostüme geschaffen, die historische Assoziationen wecken, die aber doch zeitlose Pfadfinder-Romantik spiegeln.

Zugleich fördert die Bühnenfassung Horváths große erotische Bilder zu Tage. Diese sexuelle Komponente geht angesichts der politischen Kraft des Autors oft unter. Das kalte „Zeitalter der Fische“, das der österreichische Dramatiker in seiner poetischen Sprache so betörend heraufbeschwört, bringt Ostermeier mit seiner sinnlich motivierten Regie zum Klingen. Laurenz Laufenberg, der den sensiblen Schüler Z. spielt, darf seine Liebe zu dem wilden Mädchen Eva nicht ausleben. Alina Stiegler verführt den Jungen nach allen Regeln der Kunst. Klug zeigt die junge Schauspielerin die erwachende Sinnlichkeit ihrer Figur. Laufenbergs Z. ist zerrissen zwischen überbordenden Gefühlen und der Linientreue, die ihm die Gesellschaft abverlangt.

Eine Schlüsselrolle spielt Veronika Bachfischer in der Welt jener halbwüchsigen Jungen, die nach einem Halt suchen. Ob als Mutter oder als Lehrerin – die Kälte, die sie an die junge Generation weitergibt, erschüttert und verstört. Diese unerträgliche Distanz, die den Jungen das Erwachsenwerden fast unmöglich macht, zeigt die Schauspielerin mit dem schmalen, knabenhaften Körper großartig.

Tief horchen Regisseur Ostermeier und das Ensemble in die verletzten Seelen der Jugendlichen hinein, die von der Gesellschaft zu Kriegsmaschinen abgerichtet werden. Lukas Turtur als Feldwebel brüllt das letzte bisschen Selbstachtung aus ihnen heraus. Dabei legt der Schauspieler seine Rolle aber hoch komplex an: Auch seine Figur hat Angst. Als geschasster Altphilologe Julius Caesar verkörpert Bernardo Arias Porras eine Existenz, die sich angesichts der politischen Wirklichkeit in Alkohol und in sexuelle Exzesse flüchtet.

Ostermeier gelingt mit seiner Inszenierung das Kunststück, Ödön von Horváths Text im historischen Kontext zu belassen, und dabei doch die Aktualität des Werks zu zeigen. Die Schüler, die willenlos rassistische Thesen über Afrikaner nachplappern, sind alles andere als Feindbilder. Die Schauspieler zeigen die verblendeten Jungs nicht als brutale Schlächter, sondern als zerrissene Mitläufer, die den Halt unter den Füßen verlieren. „Jugend ohne Gott“ ist ein dynamischer, überzeugender Theaterabend, der das Publikum fesselt.