Jürgen Rose ist überzeugt: „Ohne funktionierendes Kollektiv nützt auch der beste Entwurf nichts.“ Foto: Roman Novitzky Quelle: Unbekannt

Stuttgart - Im August wurde er 80 Jahre alt, im Oktober feierte er mit dem Stuttgarter Ballett den 50. Geburtstag von John Crankos „Onegin“: Der Bühnen- und Kostümbildner Jürgen Rose hat fast alle großen Klassiker des Stuttgarter Balletts ausgestattet, von „Romeo und Julia“ bis zu Marcia Haydées „Dornröschen“. Und er wird erneut fürs Stuttgarter Ballett arbeiten, wie Pressesprecherin Vivien Arnold bei einem Ballettgespräch andeutete.

Herr Rose, wie war das Wiedersehen mit „Onegin“ zum 50. Jubiläum von John Crankos Handlungsballett?

Rose: Wunderbar getanzt, fand ich, die Tänzer waren großartig. Toll, wie das weitergeht über Generationen hier in Stuttgart… Die Ohrfeigen zwischen Lenski und Onegin, der Übergang zum Duell, das hab‘ ich noch nie so dramatisch gesehen. Aber die Produktion ist 50 Jahre alt und es ist nichts mehr da von den Originalteilen. Tatjanas Kleider stimmten nicht. Die Taillen sind aus Seide und die Röcke aus Organza. Da müsste man die Organzaschichten so legen, dass die Farben genau übereinstimmen, dann ist es perfekt - die elegante Linie in einer Farbe. Im letzten Bild waren zwei völlig unterschiedliche Brauntöne zu sehen, sofort entsteht der Eindruck eines bürgerlichen Kostüms: ein Mieder mit einem Rock darunter.

Dieses braune Kleid von Tatjana hat eine ziemliche Berühmtheit erlangt…

Rose: Es ist sehr außergewöhnlich, dass man eine Ballerina braun anzieht, noch dazu im letzten Bild. Da denke ich selbst immer wieder: Wie bist Du auf dieses Braun gekommen? Das muss bei mir ganz naiv, ganz unbedarft gewesen sein, noch gar nicht geschult. Irgendwie haben die Kleider von Dior damals einen großen Eindruck auf mich gemacht: eine einzige Farbe durchgehend, ganz schlicht. Diese raffinierten Details habe ich alle nur von Cranko gelernt, weil ich vorher nichts wusste, nichts studiert hatte, einfach nur beobachtet habe.

Schlimmer als Tatjanas Kleid war bei der Aufführung übrigens das schrecklich rote Licht auf den Hängern, weil die gemalten Farbnuancen dadurch verloren gingen. Meine Augen machen mich da wahnsinnig - das einzige, wofür ich wirklich eine Begabung habe, ist, dass ich jeden Fehler sofort sehe. Und dann bin ich so undiplomatisch und sage das sofort und stoße die Leute vor den Kopf. Auch beim „Onegin“ war ich nach der Aufführung hinter der Bühne und habe gesagt: Diese Scheiß-Rotscheibe, die darf nie wieder verwendet werden! Hätte ich es nur netter gesagt, die sind ja alle prima dort. Ich will einfach immer das Beste haben, nicht für mich, sondern für das Stück.

Erinnern Sie sich an die Entstehung von „Onegin“?

Rose: Ich wurde da so fast als Laie reingeworfen. Crankos „Romeo und Julia“ war mein erstes großes Ballett - keiner hat damals gewusst, dass das nach 50 Jahren noch läuft! Bei den „Onegin“-Vorbereitungen lief alles glatt, zwischen Cranko und mir gab es überhaupt keine Probleme. Er war acht Tage bei mir in Berlin gewesen, um das Bühnenbild-Modell zu sehen, und hat zuerst einmal die Großstadt genossen, die Museen, die tollen Lokale. Er hat ja immer gelitten in diesem kleinen Stuttgart. 1969 waren wir dann in New York an der Met, wir waren dort noch völlig unbekannt. Aber irgendwie haben sie das Haus mit seinen 4000 Plätzen an der Premiere vollgekriegt und es gab Standing Ovations, „A star is born, Stuttgart is not only Mercedes, Stuttgart is Ballet now“ und so weiter. Da rief mich am nächsten Morgen der Chef des Metropolitan Museum an und sagte: „Mr. Rose, ich habe Ihr Bühnenbild gesehen, ich muss einen dieser Prospekte kaufen. Die sind so unglaublich gemalt!“ Und es war wirklich unglaublich, jeder Quadratmeter war ein Wunder an Malerei durch die Kunst des Bühnenmalers Alfons Ostermeier - ein großer Könner, der mich lange begleitet hat, vor allem 40 Jahre an den Münchner Kammerspielen. Nie wieder war die Malerei wieder so wunderbar wie bei der Stuttgarter Produktion von 1967.

Gibt es diese Handwerkskunst heute nicht mehr?

Rose: Hier in Stuttgart gab’s mal zehn bis 15 verschiedene Maler im Malersaal- das ist alles nicht mehr so. „Onegin“ war damals im Umfang eine normale Dekoration, nichts Außergewöhnliches. Als das vor kurzem an der Pariser Opéra gemacht wurde, da haben sie den Etat von zwei Spielzeiten für „Onegin“ zurückgehalten. Weil inzwischen einfach die Arbeit, diese Hänger zu malen, mehr Zeit braucht und mehr kostet. „Onegin“ ist mit mein teuerstes Bühnenbild jetzt, teurer als die „Kameliendame“. Wir sind ja abhängig von all den Handwerkern im Theater, das ist unser Beruf; was das Schöne daran ist und wofür man sein Leben lang kämpft. Ohne funktionierendes Kollektiv nützt auch der beste Entwurf nichts. Es zählt nur, was der Zuschauer sieht, wenn sich der Vorhang öffnet.

Sie haben so viele Ausstattungen hier in Stuttgart gemacht, was verbindet Sie heute mit dem Haus?

Rose: Immer wenn ich hierher komme, auch nach so vielen Jahren: In den Korridoren hängen immer irgendwelche Kostüme von mir. In den Werkstätten werde ich aufgenommen, als ob ich nach Hause komme, das ist toll. Von den vielen neuen Mitarbeitern sind allein aus der Kostümabteilung und vom Malersaal 120 zu meiner Ausstellung nach München gekommen.

Schmerzt es Sie, wenn Ausstattungen, in die Sie so viel Herzblut gesteckt haben, nach ein paar Jahren komplett verschwinden?

Rose: Das hat man über Jahrzehnte gelernt, dass Theater vergänglich ist. Irgendwann ist die letzte Vorstellung. Einmal war es besonders dramatisch, das war der letzte Tag in meinen geliebten Münchner Kammerspielen. Wir hatten als letzte Vorstellung „König Lear“, danach war ein großes Fest im ganzen Haus. Da bin ich nochmal auf meine Bühne, wo ich fast 100 Stücke gemacht hatte, weil ich Abschied nehmen wollte. Der Hausinspektor, den ich jahrzehntelang kannte, beobachtete das und hat gespürt, dass ich allein sein wollte. Er hat dann für mich alle Türen zur Bühne abgeschlossen, und ich war allein für eine halbe Stunde. Das war ein schöner Moment.

Sie waren sehr lange Professor an der Stuttgarter Akademie der bildenden Künste, wie kam es dazu?

Rose: Bei mir lief das so parallel, diese Karriere. Cranko war der eine, den ich so ganz jung kennenlernte, durch Zufall. Dann hab‘ ich aber kurze Zeit später Hans Lietzau getroffen, mit dem machte ich große Stücke in Hamburg. Und das hat dann Otto Schenk gesehen, und der hat mir sofort „Don Carlos“ an der Wiener Staatsoper angeboten, dann kam Rudolf Noelte, das lief parallel. Cranko wollte mich immer wieder haben, und die andern auch! Ich hab gierig gelernt, Tag und Nacht gearbeitet. Das kann man auch nur, wenn man jung ist. Cranko wollte, dass ich von Berlin nach Stuttgart ziehe, und hat gesagt: Du musst unbedingt Schüler haben, du musst lehren. Er hat diese Professur vorgeschlagen, ich habe mich beworben und bin genommen worden. Und dann hat er es nicht mehr erlebt. Ich wollte absagen, aber man hat mich überredet, zu bleiben. Und ich bin 27 Jahre geblieben.

Das Interview führte Angela Reinhardt.