Reid Anderson verlässt am Ende dieser Spielzeit nach 50 Jahren das Stuttgarter Ballett. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Larissa Schwedes

Stuttgart - Der Saal im Stuttgarter Opernhaus ist dunkel, nur mitten im Publikum am Regietisch von Reid Anderson brennt ein kleines Licht. Der Ballett-Intendant macht sich eifrig Notizen. Es ist eine der letzten Proben vor der Premiere des Ballettabends „Cranko Pur“ am Dienstag. „Die letzte Szene war zu schnell, die machen wir nochmal“, ruft Anderson seinen Tänzern über Lautsprecher zu. Der Zeitplan ist knapp, Orchester und Ensemble haben nur eine Stunde Zeit miteinander.

Der legendäre Choreograph John Cranko wäre in diesem Jahr 90 Jahre alt geworden. Er starb 1973 an Herzversagen, während er mit seiner Kompanie im Flugzeug unterwegs war. In Stuttgart inszenierte der Choreograph viele Stücke und machte die Kompanie zum international bekannten „Ballettwunder“. Sein Geist ist mehr als präsent. „Der Cranko-Spirit liegt hier in der Luft“, sagt Anderson. „Viele alte Tänzer und kleine Geschichten halten ihn am Leben. Wir waren dabei und können erzählen, wie es mit ihm war.“

Alles dreht sich um das Kartenspiel

Auf der Bühne umschwärmen vier Buben mit hohen Sprüngen die Herz-Dame, bis der Joker ihnen Pirouetten drehend die Schau stiehlt. In John Crankos „Jeu de Cartes“ dreht sich alles ums Kartenspiel - und darum, dass der Joker bei keiner anderen Spielkarten willkommen ist. Der Tänzer des Jokers ist zu jung, um John Cranko selbst erlebt zu haben. Doch er hat kompetente Unterstützung von Egon Madsen. Der ältere Kollege tanzte den Joker als erster, Cranko schrieb ihm die Rolle sozusagen auf den Leib. Bei der Premiere von „Cranko Pur“ kommen neben „Jeu de Cartes“ auch „L‘Estro Armonico“ und „Brouillards“ auf die Bühne.

Die kurzen Stücke sind eher untypisch für Cranko, der vor allem für seine abendfüllenden Ballette bekannt ist. „Ich habe sie ausgewählt, weil sie für mich persönlich etwas bedeuten“, sagt Anderson, der vor seiner Zeit als Intendant selbst auf tanzte. „Ich habe super Erinnerungen daran, wie wir die Stücke getanzt haben, in New York, Japan, Russland oder Südamerika. Das ist etwas für mein Herz.“Reid Anderson tanzte viele Hauptrollen in Crankos Stücken. „John hat immer gesagt: Sehr viele Leute können die Schritte machen. Sehr wenig Leute können richtig tanzen“, erzählt der Intendant. „Er hat immer geschaut, dass alle Tänzer nicht nur agieren, sondern auch reagieren. Sie müssen verstehen, worum es geht. Das habe ich von ihm gelernt.“ Auch die Stuttgarter Ballettkompanie hat vom scharfen Regiment des großen Choreographen profitiert. Anderson sagt: „Dafür ist diese Kompanie berühmt - die Tänzer bringen ihre Herzen auf die Bühne.“In der Stadt weiß man das zu schätzen: „Wir haben wirklich ein besonderes Publikum. Unsere Gäste haben eine sehr starke Bindung zum Haus und interessieren sich auch für die Entwicklung einzelner Tänzer“, sagt Vivien Arnold, die für das Stuttgarter Ballett die Öffentlichkeitsarbeit macht.

Das Ende einer Ära

Diese Bindung ist bei der öffentlichen Probe deutlich spürbar: Obwohl sie zur Mittagszeit stattfindet, sind die Karten ausverkauft. Für Reid Anderson ist die aktuelle Spielzeit am Stuttgarter Ballett das Ende eine Ära. „Ich habe im Alter von 19 - Gott sei Dank - hier als Tänzer angefangen. Das war eine gute Entscheidung. Jetzt bin ich 69. Das sind 50 Jahre Stuttgarter Ballett, das muss reichen“, meint der Künstler. Stuttgart bezeichnet der gebürtige Kanadier jedoch auch als seine Heimat, in der er auch nach seiner Intendanz weiter wohnen bleiben will. Als Zuschauer wird man ihn im Opernhaus also vermutlich noch häufiger sehen.