Nora Bossong (Mitte) im Gespräch mit dem Stuttgarter Stadtdekan Christian Hermes, rechts Moderatorin Eva Hosemann. Foto: dpa Quelle: Unbekannt

Von Petra Bail

Stuttgart - Mit elf Jahren ging Nora Bossong an der rotlackierten Tür eines Bremer Sexshops vorbei. Ihr Interesse fürs Milieu war geweckt, aber sie war zu jung, um zu hinterfragen, was in einer Welt passiert, die dem einen als Gast und dem anderen als Ware offensteht. Die Welt der käuflichen Lust, eine Tabuzone, mit der sie sich nicht abfinden wollte.

24 Jahre später erforschte die 35jährige Autorin Swingerclubs, Sexkinos, Laufhäuser, Sexmessen und Tabledancebars. Sie sprach mit Prostituierten, Pornoproduzenten, Freiern und schrieb ein faszinierendes Sachbuch über Lust als harte Arbeit und Sex als reine Machtdemonstration mit philosophisch-spirituellen Überlegungen. Interessant dabei: sie vermeidet Voyeurismus, indem sie die eigene Position als teilnehmende Beobachterin in Frage stellt und reflektiert, was in den Etablissements mit dem eigenen Begehren passiert.

„Rotlicht“ gilt als neues Standartwerk über Prostitution. Die Thesen, die Nora Bossong darin vertritt, waren Gegenstand des Gesprächs mit dem streitbaren Stuttgarter Stadtdekan Christian Hermes, moderiert von Eva Hosemann, Ex-Intendantin des Stuttgarter Theaters Rampe, im Literaturhaus.

Auf dem Podium herrschte Konsens, was den an sich hochspannenden Abend etwas eintönig machte. Zu Recht fragt eine Zuhörerin am Schluss der Veranstaltung, wo der Aufschrei am Ende des Buches bleibe. Bosson beleuchtet das geheimnisvolle Thema aus vielen Perspektiven, aus der Schmuddelecke auf dem Straßenstrich in Hamburg und der fast antiseptischen Wirkung auf der Venusmesse in Berlin. Eine klare Stellung bezieht sie nicht, außer, dass diese Orte keine Oase der Lust sind.

„Mit dem Preis sinkt der Respekt“

Nun fragt man sich, wie Hosemann, was verbindet die mehrfach ausgezeichnete Autorin mit dem promovierten Theologen und Philosophen? Es ist die einheitliche Meinung, dass es um ein Bedürfnis und die Machtverhältnisse geht, und um ein kapitalistisches System, in dem alles, was sexualisiert ist, zur Ware wird. Letztlich werde Sex, so Bossong, instrumentalisiert, um eine finanzielle Notlage auszunutzen. „Mit dem Preis sinkt der Respekt.“ Jemand mit 20 Euro zu kaufen, ist für die Autorin reiner Zynismus und Hermes unterstreicht: Machtausübung durch Bezahlung ist problematisch.

Auch Trump als männlicher Prototyp, der Frauen missachtet, wird in die Frage der geschlechtlichen Machtdemonstration eingebunden und die gesellschaftlichen Auswirkungen, die im „Dampfkesselargument“ Rechtfertigung finden, nach dem Motto: Der Mann braucht das und kann sich damit prima der Verantwortung entziehen. Der Stadtdekan spricht von Doppelmoral und von ausgesprochen neurotischen Strukturen in der kirchlichen Sexualmoral sowohl in der katholischen als auch in der evangelischen Religion. Nach einer langen Zeit der Repression sei die Sinnesfreudigkeit ins Gegenteil umgeschlagen. Genuss auf Teufel komm raus. Verwirklichung der Sexualität um jeden Preis.

Dazwischen las Bossong mit heller Mädchenstimme Passagen aus „Rotlicht“, ein softer Einstieg mit Tabledance in Frankfurt, „eine Reeperbahn ohne Folklore“, ein Türsteher, der mit seiner Zahnlücke aussieht, wie der Schauspieler Jürgen Vogel. Sie sagt, was sie sucht: Erkenntnisse über „die bestimmten Spielarten von Lust und was sie mit uns machen“.

So begibt sie sich stets mit einem Freund und Beschützer an der Seite hinein in das Milieu, setzt die eigenen Sehnsüchte in einen gesellschaftlichen Kontext, fragt, ob es für Sexarbeiterinnen in einem Laufhaus demütigend ist, wenn sie sie als angezogene Frau anschaut. Der Manager des Hauses weist Besucherinnen ab mit dem Argument: „Wir sind kein Zoo.“ Zu Recht überlegt sie, ob nicht auch Männer wie Zoobesucher an 20 Frauen im Laufhaus vorbeigehen und ob der männliche Blick durch die Einstellung, „das war schon immer so“, legitimiert sei, dass nicht darüber nachgedacht werde. In einer Sexbar fühlte sie sich als Frau wie ein Zombie, ein „Fehler im System“, ein „Machttransvestit“. Im düsteren Sexkino, wo das „Schmuddelige nicht reglementiert ist“, ein labyrinthischer „Unort für niemand“, wird sie selbst von der Beobachterin zur Beobachteten mit einem sehr mulmigen Gefühl. Dort sei Intimität schmierig und dreckig - „Rauch, Alter-Männer-Schweiß“.

Verbot nur auf europäischer Ebene

Christian Hermes, Vorsitzender des Caritasverbandes Stuttgart, der mit dem Café „La Strada“ eine Anlaufstelle für Prostituierte geschaffen hat, prangert die Pseudorechtfertigung durch das Prostituiertenschutzgesetz an. 30 Euro seien vielen Freiern zu teuer, dabei müsse eine Sexarbeiterin 150 Euro pro Tag für ihr Zimmer bezahlen, was bedeutet, dass sie pro Monat 150 Mal Männern willens sein muss, um die Miete zu bezahlen, egal ob sie krank ist. Dieser Aspekt kommt dem Stadtdekan zu harmlos weg im Buch. Aber es regt zu Gesprächen an, beispielsweise darüber, dass ein Prostitutionsverbot nur auf europäischer Ebene funktioniert. 90 Prozent der Stuttgarter Sexarbeiterinnen aus Osteuropa arbeiten in Zwangs- und Armutsprostitution. Bossong lässt Georges Bataille in „Rotlicht“ sprechen: „Die Wahrheit der Erotik ist tragisch.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.