Marcus Creed geht es um alles, was Musik lebendig macht. Foto: Ralf Brunner - Ralf Brunner

Marcus Creed, Leiter des SWR Vokalensembles, über seinen Spitzenchor und die Entwicklung eines transparenten und geschmeidigen Klangs.

StuttgartMit Auszeichnungen und Schallplattenpreisen könnte Marcus Creed wahrscheinlich seine ganze Wohnung tapezieren, seit der gebürtige Engländer 1986 Chefdirigent des Berliner RIAS Kammerchors wurde und 2003 zum SWR Vokalensemble nach Stuttgart wechselte. Beide Spitzenchöre, die heute unbestritten zu den besten der Welt zählen, formte Creed zu Ensembles eines geschmeidig-transparenten Klangs, der authentische Stilideale bei alter Musik ebenso einlöst, wie er extreme Herausforderungen der Avantgarde besteht und obendrein die Vokalwerke der Romantik schmalzfrei durchleuchtet. Im Gespräch mit unserer Zeitung spricht Creed über die Entwicklung des Chorklangs und Brückenschläge zwischen alter und neuer Musik.

Was fanden Sie vor, wo wollten Sie hin, als Sie 2003 das SWR Vokalensemble übernahmen?
Ich fand ein Ensemble vor, bei dem ich gedacht habe: Das Angebot, hier Chefdirigent zu werden, kann man nicht ablehnen. Die Sängerinnen und Sänger sind stimmlich exzellent, schnell in der Auffassung und sehr eigenständig. Die brauchen keinen Dirigierpapi, der sie streichelt und ihnen dann sagen soll, wo’s langgeht – nach dem Motto: „Sie dirigieren, wir singen.“ Die wissen und wussten damals schon genau, was sie wollen. Gearbeitet haben wir seither an einem etwas biegsameren Klang, an der Agogik und der Expressivität – an dem, was die Musik lebendiger macht. Das ist keine Kritik an meinen Vorgängern, sondern ein allgemeiner Trend in der neueren Interpretationsgeschichte.

Sie waren 15 Jahre beim RIAS Kammerchor, sind jetzt 15 Jahre beim SWR Vokalensemble. Gehen Sie in Stuttgart in die Verlängerung?
Mein Vertrag läuft bis 2020, wir sind also gerade in der mittlerweile fünften Verlängerung.

Sie dirigieren alte Musik ebenso kompetent wie neue. Wie kam es zu dieser Überschreitung des immer noch verbreiteten Nischen- und Spezialistentums?
Ich komme eigentlich von der neuen Musik her. In Berlin hat es sich durch eine Kombination der Umstände ergeben, dass ich viel alte Musik zusammen mit Barockorchestern gemacht habe. Was ich in der alten Musik gelernt habe, verdanke ich der Arbeit mit den Orchestern.

Und nicht auch Ihrer Prägung in England, einem Mutterland der historischen Aufführungspraxis?
Als ich noch in England lebte, gab es zwar ein stilgerechtes Empfinden für barocke und ältere Musik. Aber das Spiel auf Originalinstrumenten war damals noch nicht so weit. Erst später hat sich etwa die instrumentale Phrasierung im Sinne einer historisch authentischen Spielweise entwickelt, und dann wurde auch ihre Bedeutung für den Chorgesang erkannt.

Die berühmten englischen Chöre galten lange Zeit als vorbildlich für ihren leuchtenden und transparenten Vokalklang. Sind sie es immer noch?
Diese Unterschiede existieren kaum noch. In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Qualität der professionellen Ensembles auf dem Kontinent enorm gesteigert.

Was hat sich am chorischen Klangideal verändert?
Ein unkontrolliertes Vibrato ist heute regelrecht verboten. Das war eine Bewegung, die Ende der 60er-Jahre anfing und zu einem klareren Chorklang von hoher Homogenität und Präzision führte. Man darf aber nicht vergessen, dass es erst seit rund 70 Jahren professionelle Chöre gibt, die das realisieren können. Da fragt man sich schon, wie die äußerst anspruchsvolle Chormusik von Richard Strauss oder Schönberg früher überhaupt gesungen werden konnte – und wie sie dann geklungen hat.

Gehen Sie an neue Musik anders heran als an alte?
Ich will da keinen bewussten Unterschied machen. Auch wenn ich Kompositionen aus unserer Zeit probe und aufführe, suche ich immer die Musikalität darin – was bei manchen neuen Werken allerdings schwieriger ist als etwa bei Brahms.

Viele Hörer haben nach wie vor keinen Zugang zur neuen Musik. Wie kann man ihn öffnen?
Das kann man nicht pauschal beantworten. Neue Musik ist sehr vielfältig. Arvo Pärt mit seinen konsonanten Klängen ist sicher leicht zugänglich. Bei anderen Stücken ist es so wie in der Literatur: Wer noch nie ein Buch gelesen hat, muss nicht gleich mit dem „Ulysses“ von James Joyce anfangen. Neue Musik ist eine Frage der Hörbereitschaft, aber auch der Hörerfahrung.

Wird deshalb Musikvermittlung immer wichtiger?
Alles jenseits von Konzertaufführungen und CD-Aufnahmen wird wichtiger – Musikvermittlung, aber beispielsweise auch Live-Streams.

Sichert das auch die Existenz des Vokalensembles im SWR?
Im Moment sieht es recht gut aus, was unsere Absicherung anbelangt. Aber Definitives kann ich dazu nicht sagen.

In ihrem nächsten Konzert am kommenden Samstag stellen Sie gezielt Altes und Neues gegenüber: 400 Jahre alte Responsorien des als Mörder berühmt und berüchtigt gewordenen Gesualdo und um das Jahr 2000 entstandene Passionsmotetten von Wolfgang Rihm. Welche Überlegung steckt dahinter?
Rihm bezieht sich offenkundig auf Gesualdo. Er vertonte die gleichen Texte aus der Karwochen-Liturgie mit ebenfalls sechsstimmigen Chorsätzen. Das Programm selbst ist also ein Responsorium, ein Wechselgesang zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Bei Gesualdo hört man in der herben Harmonik und den Tonmalereien einen furchtbaren Schmerz und eine Leidenschaft, die mit Schuldgefühlen nach dem Mord an seiner Frau und ihrem Liebhaber zu tun haben mögen. Rihms Musik spricht natürlich eine andere Klangsprache, der wir mit musikalischem Ausdruck folgen wollen.

Das Interview führte Martin Mezger.

Das Konzert mit dem SWR Vokalensemble in der Leitung Marcus Creeds und Motetten von Gesualdo und Wolfgang Rihm beginnt am kommenden Samstag, 28. April, um 20 Uhr in der evangelischen Kirche Stuttgart-Gaisburg (Faberstraße 16). Karten im Vorverkauf unter der Telefonnummer 07221/300 100 oder unter SWRclassicservice.de.

Als Live-Videostream ist das Konzert auf SWRClassic.de abrufbar, ab 4. Mai ist es dort als Video on demand verfügbar.

Zur Person

Marcus Creed wurde 1951 in Eastbourne an der englischen Südküste geboren. Am King’s College in Cambridge begann er seine musikalische Ausbildung und sang zugleich im Chor des Bildungsinstituts, einem der berühmten englischen Hochschulchöre. Nach weiteren Studien in Oxford und London übersiedelte er 1977 nach West-Berlin. Dort war er Chordirektor an der Deutschen Oper und arbeitete als Pianist und Dirigent mit Neue-Musik-Gruppen zusammen. Ab 1986 leitete er 15 Jahre lang den RIAS Kammerchor Berlin, 1998 wurde er Professor für Chorleitung an der Kölner Musikhochschule. Seit 2003 ist er Chefdirigent des SWR Vokalensembles.

Creeds Repertoire kennt keine Grenzen, er dirigiert alte Musik, darunter etliche Oratorien Händels, ebenso wie Romantik, neue und neueste Musik. Viele seiner zahlreichen CD-Aufnahmen setzten interpretatorische Maßstäbe und wurden mit Preisen ausgezeichnet.