, Stephanie Biesolt, Christian A. Koch, Julian Häuser (vorne) und Ulf Deutscher Foto: Patrick Pfeiffer - Patrick Pfeiffer

Moral und Menschlichkeit haben wenig zu melden in Friedrich Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“. Christof Küster hat die Tragikomödie als WLB-Open-Air mit ironischer Tragik und mäßiger Komik inszeniert.

EsslingenDer Intendant höchstpersönlich verteilt Sitzkissen. In der Pause gibt’s Bratwurst vom Grill. In der Vorstellung hört man live die Schwalben fröhlich zwitschern, während sie über der Bühne gewagte Loopings vorführen. Beim Sommer-Open-Air der Esslinger Landesbühne (WLB) auf dem Kessler-Platz hinter der Stadtkirche ist eben alles etwas anders als sonst im Theater. Weswegen auch die Premiere am Samstag wegen Starkregens kurzfristig abgesagt werden musste. So konnte sich das Premieren-Adrenalin des Ensembles erst am Mittwoch entladen – bei gut 35 Grad im Schatten des Fachwerk-Gebäudes der Sektkellerei Kessler.

Diesen Sommer zeigt die WLB unter freiem Himmel den „Besuch der alten Dame“ von Friedrich Dürrenmatt in der Regie von Christof Küster. Dürrenmatt ist derzeit wieder angesagt auf deutschen Bühnen. Seine Stücke aus Wirtschaftswunder-Zeiten, die Worstcase-Szenarien in Sachen Moral und Menschlichkeit zeigen, sind wieder hochaktuell – wie eben „Der Besuch der alten Dame“: weil der Kapitalismus unsere Gesellschaft immer krasser spaltet, die Kluft zwischen Arm und Reich immer tiefer, das Gefälle zwischen reichen und verarmten Regionen immer hochprozentiger wird. Und dünn ist die Decke der Humanität, die den Menschen vor dem Menschen schützt, ja sowieso.

Man kauft schon mal auf Pump

Also wirkt Claire Zachanassian, die alte Dame, die dank Heirat eines Ölmagnaten zur Milliardärin geworden ist, auch gar nicht aus der Zeit gefallen, wie sie da in ihre alte Heimatstadt, das fiktive Güllen, zurückkehrt, um den Bewohnern ein unmoralisches Angebot zu machen. 500 Millionen für die verschuldete Stadt und 500 Millionen gleichmäßig verteilt für alle Bürger, wenn sie Gerechtigkeit in ihrem Sinne dafür kriegt: Die Stadt soll ihren ehemaligen Geliebten Alfred Ill ermorden, der sie einst als 17-Jährige schwängerte und erbarmungslos sitzen ließ. In der abgewrackten Kleinstadt, deren Fabriken längst bankrott sind, an der die Schnellzüge nur noch vorbeirasen und die Menschen von der Arbeitslosenhilfe und vom Flaschensammeln leben, schmelzen moralische Einwände schon bald weg. Die Gier aufs Geld nimmt überhand, man kauft auf Pump: schicke Schuhe, ein neues Auto, der Pfarrer gar eine neue Kirchenorgel – innerlich damit rechnend, dass es dem einst so beliebten Bürgermeisteranwärter Ill bald an den Kragen gehen wird. Einer wird’s schon richten. Selbst Ills eigene Kleinfamilie macht da mit.

Nun ist Freilicht-Theater freilich nichts für die Feinzeichner-Regie. Wohl deshalb geraten die meisten Figuren recht einfach und eindimensional – etwa der Bürgermeister (Christian A. Koch), der Polizist (Ralph Hönicke) oder der Pfarrer (Eberhard Boeck). Aber komödiantisch ginge da schon noch mehr. Schließlich ist „Die alte Dame“ keine Tragödie, sondern eine tragische Komödie. Ein fassliches Stücke von lakonischer, pointierter Sprache, mit Übertreibungen und anderen komischen Aspekten arbeitend und durchaus auch mit einem Schuss Räuberpistole.

Sabine Bräuning spielt die mondäne Milliadärin mit Grandezza und wirkt weder alt noch aus Prothesen zusammengesetzt. Ihre Claire Zachanassian ist weder Traumgestalt oder grausamer Racheengel noch Gespenst der Vergangenheit, sondern ganz realistisch eine toughe Geschäftsfrau in elegantem Outfit, immer per Tablet die Börse im Visier. Eine attraktive Frau, die die Männer springen lässt. Nur: Von der tiefen Verletztheit der Figur ist nichts zu spüren.

Ihr Gefolge ist gegenüber dem Original deutlich reduziert: Übrig geblieben sind ein cooler, meist stummer Leibwächter (luxuriös besetzt mit Florian Stamm), außerdem drei skurrile Ex-Ehemänner, deren Grundoutfits – schwarzer Anzug und Sonnenbrille – sich in Details wie Cowboyhut oder Dalí-Schnurrbart verändern, bis einer gleich ganz zum Karl-Lagerfeld-Double mutiert. Gesine Hannemann zeigt präzise und mit gewohnter Bühnenpräsenz, wie’s geht mit der Komik: Wie sie die reiche Alte exzentrisch umtänzelt, sie umgarnt, sich ihr an den Hals wirft und Lagerfeld bis zu den geschürzten Lippen karikiert, um dann jedesmal vom Bodyguard im Bühnenbild versenkt zu werden – das ist wirklich lustig!

Flachgelegte Fachwerkhäuser

Gespielt wird auf abgestufter Schräge (Bühne und Kostüme: Marion Eisele): Eine flachgelegte Fachwerkhäuserfront, die sich nahtlos einfügt in die Silhouette des Kessler-Platzes. Mal dient die Plattform als „normale“, vertikal gedachte Spielfläche, mal gucken Bürgermeister, Polizist oder Ills Familie aus den horizontal gelegten Fenstern hinaus wie aus Löchern oder hüpfen unter munterem Fensterklappen behände hinaus und wieder hinein. Und deshalb schrubben die Güllener für die Ankunft des hohen Gastes auch die Fassaden ihrer Häuser im Liegen – zu Abbas „Money, money, money“ in Weinfest-Bigband-Version.

Die Produktion musste im Vorfeld krankheitsbedingt mehrmals umbesetzt werden. So ist Oliver Moumouris erst kurz vor der Premiere in die Rolle des Alfred Ill geschlüpft. Seine ursprüngliche Rolle als Lehrer übernahm Marcus Michalski, und dessen Rollen wiederum andere Ensemblemitglieder. Dass der Abend sich mit der Zeit ein wenig zäh gestaltet, liegt freilich nicht an Moumouris, der seine Sache fabelhaft macht: Glaubwürdig gestaltet er die Wandlung vom naiv sich an die Zachanassian heranwerfenden Charmeur zum Verurteilten, der sich schuldig bekennt. Und ganz nebenbei outet er sich in Joe Cockers „You are so beautiful“ als begnadeter Sänger.

Am Ende muss Ill sterben. In Esslingen thront er – gehüllt in goldschimmernde Rettungsdeckenfolie und die Augen verbunden mit Mullbinde – mit ausgebreiteten Armen am oberen Rand der Bühne, ähnlich der Christusstatue von Rio de Janeiro. Viel Pathos, das Küster sofort wieder zurücknimmt: Lagerfeld alias Hannemann kommt (aus dem Jenseits?) auf die bebende Bühne, entreißt den zitternden Güllenern den Milliardenscheck und lässt in überm Feuerzeug verpuffen.

Weitere Vorstellungen finden bis 27. Juli statt. An Vorstellungstagen ist von 17.30 bis 19.30 Uhr unter der Rufnummer 0711/3512 3450 ein Infotelefon mit Bandansage geschaltet. Es informiert bei unsicherer Wetterlage darüber, ob die Vorstellung stattfinden wird.

www.wlb-esslingen.de