Guck mal in den Spiegel, Schätzchen: Therese Dörr als Célimène und Matthias Leja als Alceste. Foto: David Baltzer - David Baltzer

Die Regisseurin Bernadette Sonnenbichler stellt Molières misanthropischen Titelhelden einer lächerlichen Sozietät von Hohlköpfen gegenüber. Dadurch verpuffen Brisanz und Gesellschaftskritik der bitteren Komödie.

StuttgartDa müsste der Paartherapeut ran. Die beiden sind ineinander verkeilt wie Unfallpartner. Keine Frage, sie lieben sich, aber glücklich werden sie nie. Eine Trennung – die führen sie in Momenten lichter Vernunft im Munde. Aber sie können nicht. Weil eben Liebe nichts mit Vernunft zu tun hat. Also ein quälender Schwebezustand, eine ewig aufgeschobene Entscheidung: hopp oder ex, mit der Maus oder aus die Maus.

Nun, der Paartherapeut kommt nicht in Molières „Menschenfeind“, dafür ein offenes Ende – so offen, dass die Komödie aus dem 17. Jahrhundert eine Sichtachse ins postmoderne Beziehungselend unserer Tage aufreißt: Ratlose Egotripper, infiziert von Bindungsangst, verstehen sich selbst nicht, weil sie sich nach Unmöglichem sehnen – der Liebe. Unterm Stich bleibt dann in der Gleichung mit zwei Unbekannten, die sich weder lösen noch ineinander auflösen können, ein steter Rest Unbehagen: Die gestörte Paarmathematik definiert Nähe als Nahkampf. Was zu beweisen ist mit einer gelungenen Szene in Bernadette Sonnenbichlers „Menschenfeind“-Inszenierung im Stuttgarter Schauspielhaus: einer erotisch aufgeladenen Rangelei zwischen Célimène und Alceste, dem Menschenfeind. Ergebnis: unentschieden. Der Kampf wird abgebrochen.

Der Punkt bei Molière ist nicht, dass Célimène all das nicht kapiert hätte. Sie fühlt den Ernst ihrer Liebe zu Alceste, will aber vom koketten Spiel nicht lassen. Klug, wie sie ist, strebt sie nicht nach dem Endspiel, sondern nach Balance als einziger Chance jenseits von Selbstpreisgabe oder Liebesverzicht. Sie ködert die vorgeführten Möchtegern-Verführer und behält Alceste im Herzen. Naturgemäß stürzt da mal das System ab, doch Célimène-Darstellerin Therese Dörr ist die Virtuosin des entgleitenden und wiederhergestellten Gleichgewichts – nicht nur, wenn sie den Vorwurfsspieß zurückwendet gegen die moralapostolische Schreckschraube Arsinoé (mit Paketfrisur und im dunkelvioletten Reifrock: Marietta Meguid). Therese Dörr zeigt in brillanter Präzision, wie die Masken des Lächelzwangs und der hohlen Posen verrutschen, wie die Sekunde der wahren Empfindung, aber auch der beklommenen Furcht tickt – und wie die Maskerade blitzschnell wieder in die Mienen gezogen wird.

Der Punkt ist umgekehrt auch nicht, dass ausgerechnet Alceste, der Gesellschaftshasser, sich heillos in das Gesellschaftswesen Célimène verknallt. Der Schnittpunkt der Asymmetrie ist vielmehr, dass Célimène Alceste durchschaut, er sich selbst aber nicht. Sie erkennt die Substanzlosigkeit seines Widerspruchsgeists: „Die eigene Meinung hält er für verkehrt, wenn er sie aus anderem Munde hört.“ Was für seine ganze Tragikomik gilt.

Denn der Menschenfeind, so Molières Pointe, ist nicht besser und nicht mal anders als die verlogene, heuchlerische, oberflächliche Gesellschaft, sondern schlimmer. Er, der Wahrheitsfanatiker, winselt bei Célimène um die Gnade der Unwahrheit, er, der den Jahrmarkt der Eitelkeiten verachtet, ist der größte Narzisst von allen, er, der sich nichts und niemandem fügen will, erhebt einen totalen Besitzanspruch gegenüber seiner Geliebten.

An solch verräterischer Dialektik des Selbstwiderspruchs spielt Sonnenbichlers Inszenierung ahnungslos vorbei. Die Regisseurin zieht die Außenseiterkarte: Alceste ist einer, der nicht mitspielen will, und deshalb gibt er zuerst mal grantelnd Laut in den Reihen derer, die im Theater eben nicht mitspielen: der Zuschauer. Dorthin verkriecht er sich auch am Ende, wenn es ihn resigniert in die „Einsamkeit“ zieht. Matthias Leja zeigt ihn als clochardhafte Gestalt in langem, dunklem Kittel und mit Plastiktüte, in der seine Perücke steckt – fürs Nachäffen seiner Widerparts, einer Sozietät halbbarocker Schranzen und Comic-Figuren, grotesk verpackt in Tanja Krambergers Kostümen. Als da wären: ein angeschwuchtelter Freund Philinte (Robert Rozic) in geschlitzten Hosen; das Nebenbuhler-Duo Acaste und Clitandre (Benjamin Pauquet und Sebastian Röhrle) als Stand-Jogger in Slimfit-Manier mit Superman-Visagen und Spoilern auf den Wangenknochen; eine mausige Éliante (Celina Rongen) mit hohen Sohlen unter den Füßen und Ikea-Ballon auf dem Deets; ein mannweiblicher Dilettantendichter Oronte (Sven Prietz), der sich für kritikfähig ausgibt und Alceste nach dessen vernichtender Kritik verklagt.

Diese Deppen aus den Party-Lounges zwischen Versailles und Stuttgart versetzt die Regisseurin in tänzelnde, tüttelnde, posierende Dauerbewegung, Jean Laurent Sasportes kreiiert zum passenden, mit ein barocken Posaunenstößen angereicherten Softpop (Musik: Jacob Suske) der auf Plattformen schwebenden Band stumme Bewegungschoreographien, wo kaum einer die Füße hochkriegt und Alcestes Diener Dubois (Julian Lehr) als Oberschlurfer absurde Ereignislosigkeit in den Raum zieht: durchaus zutreffend, schließlich stagniert das Geschehen in jeder Hinsicht. Mal sind es Schattenfiguren im Gegenlicht in Wolfgang Menardis Bühnenschatulle, die gleichzeitig ein Theater im Theater ist. Mal darf die Narzisstenbande mit dem Spiegel tanzen, gern auch in Sackhöhe. Alceste hinwieder zieht Grimassen, wenn er sein unholdes Antlitz im spiegelnden Boden sieht: Zeichen eines fortgeschrittenen Narzissmus. Und wenn der Sauertopf mal draußen ist, gibt’s prompt einen flotten Viererbob. Sex halt.

Unter all diesen Hampelmännern macht Alceste Theater – nur eben ein anderes als das der abgezirkelten Gesten und eitlen Fratzen: Er tobt als Wüterich der Entlarvung, die in Wahrheit nur Selbstbetrug ist. Aber so weit reicht Sonnenbichlers Regie nicht. Ihr geht es um die Sphäre maskenhafter Repräsentation und ihre Demaskierung. Nur: Was gibt es bei diesen Hohlköpfen zu demaskieren? Was bringt der Konflikt mit Witzfiguren, etwa in der sträflich verjuxten, da bis heute kenntlichen Oronte-Affäre? In einer Gesellschaft läppischer Karikaturen biegt Gesellschaftskritik in den Zirkelschluss ein: Die Doofen sind doof. Hier fehlen Brisanz – und Spannung. Man weiß nach ein paar Minuten, wie die Chose läuft: außer Beziehungskiste nur bilderreiches Flachbaden in der Tiefe von Molières Text.

Die nächsten Vorstellungen: 4. und 6. März, 1. und 2. April.