Wie schafft man es, dass mehr Menschen den öffentlichen Nahverkehr nutzen? Eine Strategie dafür sollen Experten im Auftrag des Landesverkehrsministeriums ausarbeiten. Foto: Leif Piechowski

Bis 2030 soll die Zahl der Fahrgäste in Bussen und Bahnen verdoppelt werden. Der Blick auf den aktuellen Zustand des Nahverkehrs ist jedoch ernüchternd.

Stuttgart - Die Corona-Pandemie hat den öffentlichen Nahverkehr schwer getroffen – auch finanziell. Bahnen und Busse sind durchschnittlich nur halb so voll wie in der Zeit davor, fahren aber das komplette Angebot. „Das positive Image und die Zuwächse bei den Fahrgästen sind weg“, sagte auch Landesverkehrsminister Winfried Hermann beim Auftakt der ÖPNV-Zukunftskommission am Donnerstag in Stuttgart. Umso wichtiger sei nun eine Strategie bis zum Jahr 2030, mit der die Nachfrage gegenüber 2010 verdoppelt werden soll, wie es die Klimaschutzziele des Landes vorgeben. „Wir müssen den ÖPNV neu und groß denken“, so Hermann.

Nachholbedarf im Südwesten

Allerdings machten zwei Experten zunächst deutlich, wie klein das Angebot an Bussen und Bahnen im Südwesten ist – zumindest im Vergleich zu den Nachbarländern Schweiz und Österreich. Dort seien Städte und Gemeinden besser durch die Routen erschlossen, die Takte seien dichter und die flexiblen Angebote wie Ruftaxi viel größer und vor allem einheitlich geregelt, sagte Stefan Weigele, der mit seinem Beratungsbüro im Auftrag des Ministeriums eine umfassende Bestandsaufnahme des Nahverkehrs im Südwesten macht.

Der VVS in der Region Stuttgart käme den Angebote in den Nachbarländern noch am nächsten, die andere mehr als 20 Verbünde im Land lägen mitunter weit zurück. Das gelte besondern am Wochenende, an dem manche Verbünde ihr Angebot um mehr als 50 Prozent zurückführen, in den Nachbarländern gebe es dagegen kaum Einschränkungen. „Es gibt viel Potenzial nach oben“, sagte Weigele.

Mehr einfache Paketlösungen

Noch weiter ging Thomas Sauter-Servaes, der den Ingenieurstudiengang Verkehrssysteme an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften leitet. Es sei notwendig, aber es reiche nicht aus, nur Takte und Verbindungen zu verbessern. Damit sei es bisher auch nicht gelungen, den Anteil des Nahverkehrs zulasten des Autoverkehrs zu erhöhen. Er empfiehlt, dass die Verbünde stärker digitalisierte und einfach zu benutzende Paketlösungen anbieten, die das Abo für Busse und Bahnen mit der Nutzung von Rädern und Autos (eigenen und gemieteten) wie in einer Flatrate kombiniere. „Dabei geht es nicht um die Kombination einzelner Angebote, sondern man muss das vom System her denken“, sagte Sauter-Servaes, „wir brauchen einen emotionalen und funktionalen Autoersatz.“

Strategie soll Mitte 2021 vorliegen

Viele Vorschläge für die mit 20 Experten besetzte Zukunftskommission also, die bis Mitte 2021 die Strategie ausarbeiten sollen. „Der ÖPNV muss flexibler und individueller werden“, glaubt Hermann, der auch neue Finanzierungsquellen fordert. „Wir müssen umsteuern, bisher sind wir in der Mobilität extrem autolastig unterwegs“, sagte er. Das sagte auch Weigele: „Ein dichteres Angebot, das mehr Nachfrage generiert, wird deutlich teurer werden“. Und was passiert mit der Strategie? Sie werde mit allen Beteiligten entwickelt und könne nur dann erfolgreich umgesetzt werden, „wenn alle an einem Strang ziehen“, so Hermann.