Machen das Kunstgebäude weiter zum Ort der Debatte: Iris Dressler und Hans D. Christ Foto: Max Kovalenko

„Actually, the Dead are not dead. Politiken des Lebens“ heißt die neue Schau im Württembergischen Kunstverein. Vor allem die leisen Töne überzeugen, findet „Stuttgarter Nachrichten“-Autor Nikolai B. Forstbauer

Stuttgart - Iris Dressler und Hans D. Christ formulieren für ihr Projekt „Actually, the Dead are not dead“ manch kühne Sätze. Sätze, die alles Heldenhafte verneinen und die vielleicht gerade deshalb die Grenzen des Heldenhaften neu ausloten.

Die zentrale Formulierung: „Die Ausstellung geht der Frage nach, wie sich unsere Beziehungen zu denen, die nicht mehr oder noch nicht da sind, neu definieren lassen: im Sinne der Verantwortung für das vergangene und kommende Leben. Dies bezieht die Auseinandersetzung mit dem Erbe ungelöster sozialer Konflikte ebenso ein wie die Sorge um die Zukunft des Planeten und dessen Ressourcen. Es betrifft das Leben funktional diverser Körper ebenso wie den Kampf gegen all jene Ökonomien, die den Tod um des Profits willen in Kauf nehmen.“

Unaufdringliche Tiefe

Noch Fragen? Vor allem und höchstens wohl, ob ein solcher Anspruch nicht alle Kunst erdrücken muss. Einmal wieder aber ist es genau umgekehrt: Die ausgewählten Arbeiten und der im Vierecksaal des Kunstgebäudes am Schlossplatz entwickelte Parcours erzeugen gänzlich unaufdringlich eine Inhaltstiefe, die alle Kommentierung als vertrauende Annäherung erscheinen lässt.

Dies auch deshalb, weil „Actually, the Dead are not dead“ seinen Ausgangspunkt in einem Konzept von Iris Dressler und Hans D. Christ für eine Gegenwartskunst-Triennale in der norwegischen Stadt Bergen (Bergen Assembly 2019) hat – und weil auch die aktuelle Präsentation in Stuttgart nicht vorgibt, ein Thema abschließen zu können. Eine Assembly, eine Versammlung, setzt für Dressler und Christ „kollektives emanzipatorisches Handeln“ voraus – und der Satz des Autors und Filmemachers Alexander Kluge „Es ist nämlich ein Irrtum, dass die Toten tot sind“ (gesprochen am Grab des Theaterautors Heiner Müller) führt die Kunstvereinslenker zur Frage, wie wichtig jene sind „die nicht mehr oder noch nicht präsent sind“.

Im Tempel der Ernsthaftigkeit

Ein Jahr soll die Frage gestellt und vertieft werden – in drei Ausstellungsprojekten, Begleitveranstaltungen und auch im Dialog mit einer Kunstform, die seit je den Widerstreit zwischen Leben und Tod spiegelt: das Musiktheater. Von 14. März an wird der Kuppelsaal des Kunstgebäudes in Kooperation mit der Oper Stuttgart zum „Tempel der Ernsthaftigkeit“ – auch dies ein Verweis auf Alexander Kluge, der so einen Ort skizziert, „an dem Trauer und Freude zum Ausdruck kommen und Verluste angemessen betrauert werden können“.

Der Aufstand des Körpers

„Politiken des Lebens“ ist das von Dressler und Christ gemeinsam mit Viktor Neumann erarbeitete Auftaktkapitel von „Actually, the Dead are not dead“ benannt. „Nicht die Auferstehung des Körpers ist das Thema“, sagt Iris Dressler, „sondern der Aufstand des Körpers“. Und so konfrontiert die Schau gleich zu Anfang mit der steten Verwandlung des Körpers in den Auftritten der 2013 gestorbenen Künstlerin Lisa Bufano. Mit 21 Jahren müssen ihr nach einer Infektion ihre Unterschenkel und Hände amputiert werden. Ihr „Aufstand des Körpers“ findet auf Stelzen statt, in Szenerien, die das reale Ich als Möglichkeit zeigen und sich so gegen jede Festlegung stemmen.

Grundrecht auf Sexualität

Noch eine Spur leiser wird der „Aufstand des Körpers“ in Antonio Centenos und Raúl de la Morenas Dokumentation „Yes, We fuck!“. Die Filmemacher aus Barcelona sehen sich als Aktivisten einer „Politik des Begehrens“. Menschen, so die Botschaft, mögen funktional, geistig oder intellektuell divers sein, sie müssen aber immer das Recht haben, ihren Körper in Gänze zu erleben. Es ist ein berührender Film im besten Sinn.

Erinnerungsspeicher Körper

Dass mitunter buchstäblich nur der eigene Körper bleibt, um Erinnerungen zu bewahren, zeigt Robert Gabris in seiner Zeichnungsserie „Das blaue Herz“. Blau ist Gabris’ Vater das eigene Leben eintätowiert – als Roma stetig an den Rand gedrängt, wird er durch die Tätowierungen immer mehr eins mit der eigenen Geschichte.

Valérie Favre am 11. März bei „Über Kunst“

Aus leichtem Gelbgrün taucht ein Kopf auf und entführt in die Traumsequenz eines Tiermenschen. Zum Gürtel gereihte Grau-Volumen aber lassen zurückweichen. „Terrorist“ heißt das Ölbild aus Valérie Favres Zyklus „Selbstmord“. Mit Bleistift hat Favre den Titel notiert. Noch diese Sachlichkeit verwirrt durch die Gleichzeitigkeit von Distanz und Nähe. 40 der 120 „Selbstmord“-Werke Favres sind im Zentrum von „Actually, the Dead are not dead. Politiken des Lebens“ zu sehen – Favre selbst ist am 11. März um 19.30 Uhr Gast der Gesprächsreihe „Über Kunst“ unserer Zeitung in der Staatsgalerie Stuttgart.

Was ist der Mensch?

Ist es wichtig, dass die US-Amerikanerin Sunaura Taylor ihre künstlerischen Arbeiten mit dem Mund herstellt? Vielleicht, um den „Aufstand des Körpers“ zu unterstreichen. „Wildlife“-Fotos verwandeln sich durch malerische Eingriffe in verwirrende Begegnungen von Tier und Mensch. Auch diese Werke sind leise im Ton – und doch oder gerade deshalb von enormer Intensität.

Was ist der Mensch? Das ist zuletzt die Frage, die das Beschwören des Lebens in Arbeiten wie Taylors Zyklus „Wildlife“, in Suntag Nohs Fotoserie „Vertigo“ über die Höheproteste südkoreanischer Arbeiterinnen und Arbeiter oder auch die Folge „la piel de la lucha, la piel de la historia“ (Haut des Kampfes, Haut der Geschichte) der Bolivianerinnen Maria Galindo (Zeichnung) und Danutza Luna (Text) und deren Identifikation der Ausbeutung des weiblichen Körpers bestimmt.

Eine Ausstellung als Einladung zur Debatte

„Actually, the Dead are not dead. Politiken des Lebens“ ist eine Ausstellung für den zweiten und dritten Blick, eine Einladung zum Dialog. Auch und gerade über das Kunstgebäude als Ort der Debatte.

Willkommen zu Valérie Favre

Viel wird über die gesellschaftliche Bedeutung von Kunst diskutiert. Unsere Zeitung bietet hierzu eine eigene Veranstaltungsreihe. Nächster Gast bei „Über Kunst“ ist am 11. März in der Staatsgalerie Stuttgart (Vortragssaal) die Malerin Valérie Favre. Beginn ist um 19.30 Uhr. Der Eintritt ist frei, eine Anmeldung ist notwendig – unter www.stn.de/galerie. Informationen zu unseren Datenschutzregeln erhalten Sie unter www.stn.de/datenschutz.

Als Malerin des Todes und des Lebens ist Valérie Favre, Professorin an der Universität der Künste in Berlin, international bekannt. Das Fachmagazin „Kunstforum“ feiert die Schweizerin, die in den 1980er Jahren in Paris zunächst als Bühnenbildnerin und Schauspielerin arbeitete, 2017 überschwänglich: „Wie famos sie die Abstraktion mit Gegenständlichkeit verwirbelt, ist das eine. Wie ihre Malerei die Malerei zelebriert und dabei fast zornig daherkommt im opulenten Zugriff auf Motivik und Techniken kunsthistorischer Granden von Arnold Böcklin über James Ensor und Balthus bis hin zu Rembrandt, ist das andere. “

„Actually, the Dead are not dead. Politiken des Lebens“ im Württembergischen Kunstverein Stuttgart –

Bis zum 10. Mai, Di–So 11–18, Mi 11–20 Uhr, Eintritt 5 Euro (ermäßigt 3 Euro)