Zohreh Ahmadian kam vor acht Jahren aus dem Iran nach Stuttgart. Ihrer Meinung nach hätte die iranische Fußballnationalmannschaft die WM wegen der Zustände in ihrem Heimatland boykottieren sollen. Foto: privat/

Vor dem ersten WM-Spiel gegen England ist in der iranischen Community von Euphorie wenig zu spüren. Alle Augen sind auf die Nationalspieler gerichtet, von denen viele Protestaktionen erwarten.

Eigentlich interessiert sich Zoreh Ahmadian für Fußball, hat die letzten Weltmeisterschaften verfolgt. In diesem Jahr aber ist das anders. „Für mich und viele Iranerinnen und Iraner ist die aktuelle Nationalmannschaft das Gesicht des Mullah-Regimes“, sagt die 32-Jährige, die im Iran geboren und aufgewachsen ist. Vor acht Jahren kam sie nach Stuttgart. Sie habe wöchentlich Kontakt mit Familie und Freunden, die noch im Iran leben, erzählt sie. Deswegen bekomme sie mit, mit welcher Brutalität die Regierung dort gegen die eigene Bevölkerung vorgehe.

Seit dem Tod der 22-jährigen Mahsa Amini, die im September von der sogenannten „Sittenpolizei“ festgenommen wurde, hat sich im Iran eine Protestwelle gegen das autoritäre Mullah-Regime ausgebreitet. Das wiederum geht mit brutaler Härte gegen Demonstranten vor, zahlreiche Menschen sind verhaftet und getötet worden. Erst kürzlich wurden gegen Demonstranten das Todesurteil verhängt. Dass Ahmadian also nicht euphorisch der sechsten WM-Teilnahme des Irans entgegenfiebert, versteht sich von selbst.

Viele hätten sich einen Boykott des Turniers gewünscht

Die Sozialarbeiterin und Aktivistin kritisiert die iranische Fußballnationalmannschaft, die sich in ihren Augen und denen vieler ihrer Landsleute nicht klar genug vom Mullah-Regime distanziert. „Einen Boykott des Turniers wäre das einzig richtige Zeichen gewesen“, sagt sie. Protestaktionen der Sportler wie das Abkleben der Nationalflagge auf dem Trikot oder Verweigern der Nationalhymne bezeichnet sie als lächerlich. Ahmadian erwartet bei der WM Größeres und sagt: „Das Team muss die Revolution entweder komplett mittragen, oder keinen Widerstand leisten, sonst ist das eine Täuschung des Volkes.“

WM-Teilnahme des Irans als Chance für Protest

Vor dem ersten Spiel der iranischen Nationalmannschaft am kommenden Montag gegen England sind die Augen also auf die Fußballer gerichtet – auch die der Stuttgarterin Mersedeh Ghazaei. Die Studentin und Aktivistin wurde in Deutschland geboren, ihre Eltern kommen aus dem Iran, Teile ihrer Familie leben noch dort. Sie sieht durch den Start der iranischen Nationalmannschaft beim Turnier die Chance, auf die Zustände in dem Land aufmerksam zu machen. Die Verbundenheit zu ihrer zweiten Heimat hänge nun davon abhänge, inwieweit der Protest des Teams auch während der WM sichtbar sei. „Die Spieler müssen sich fragen, ob sie das iranische Volk oder die repressive diktatorische Regierung repräsentieren wollen“, sagt sie.

Einer der wenigen Sportler aus dem Nationalteam, der sich öffentlich mit den iranischen Frauen solidarisiert, ist Bayer Leverkusens Stürmer Sardar Azmoun. „Schämt euch, die ihr Menschen so leicht tötet. Lang leben die iranischen Frauen.“, schrieb der Bundesligaprofi im September in einem inzwischen gelöschten Instagrampost. Abdolnasser Hamid, Vorstand des iranischen Kulturvereins in Stuttgart, findet es „gut und mutig“, wenn sich iranische Sportler zur Situation in seinem Heimatland äußern und eine Form des Protests zeigen. In Feierlaune ist auch er bei dieser WM nicht. „Man kann nicht ausblenden, dass da gerade Menschen vom feigen Regime verhaftet und umgebracht werden“, sagt Hamid, der als 19-Jähriger nach Stuttgart kam.

Sportliches Abschneiden für viele Nebensache

Das sportliche Abschneiden des Teams ist für viele Iraner zweitrangig, zumal kaum jemand davon ausgeht, dass die Spieler sich einzig auf den Sport konzentrieren und ausblenden können, was in ihrer Heimat passiert. Sportlich gesehen ist der Iran Außenseiter, trifft in der Gruppe B auf England, die USA und Wales. Neben der sportlichen Herausforderung hat die Mannschaft laut Aktivistin Zoreh Ahmadian noch eine andere Hürde zu nehmen, die sich auf die sportliche Leistung auswirken kann: „Sie haben psychischen Druck, da sehr viele Iranerinnen und Iraner gegen sie sind und sie nicht als ihre Nationalmannschaft ansehen.“ Und weiter: „Für mich und viele andere sind die Menschen, die auf die Straße gehen oder die Sportler, die ihr Kopftuch ablegen, die eigentliche Nationalmannschaft.“