Eine ältere Frau am Telefon: Ist am anderen Ende wirklich die Polizei? Foto: dpa/Karl-Josef Hildenbrand

Trotz Ermittlungserfolgen der echten Polizei und hohen Haftstrafen in der Türkei machen Anrufbetrüger ungerührt weiter – wie jetzt im Fall einer 89-Jährigen aus Bad Cannstatt.

Der Mann ist etwa 20 Jahre alt, 1,80 Meter groß, hat blonde Haare. Ein Allerweltstyp. Aber er ist eines nicht: ein Polizeibeamter. Das weiß jetzt auch eine 89-jährige Cannstatterin, die ihm an der Haustür Schmuck und Goldmünzen im Wert von mehreren Zehntausend Euro in die Hand drückte. Sie wollte damit eine Kaution für ihre Tochter zahlen – für einen tödlichen Unfall, den es gar nicht gegeben hatte.

Über die Betrugsmasche wird schon seit Jahren in allen Medien berichtet. Und doch funktioniert der Trick immer wieder. Auch in diesem Fall: Bei der Seniorin in Bad Cannstatt klingelt am Mittwoch gegen 11. 30 Uhr das Telefon – und am anderen Ende melden sich der Reihe nach eine angebliche Polizeibeamtin und ein Staatsanwalt. Ein Schockanruf. Ihre Tochter habe einen Verkehrsunfall verursacht, bei dem ein Mensch zu Tode gekommen sei. Nur eine hohe Kaution könne eine sofortige Haftstrafe abwenden.

Millionenschaden hat sich verdoppelt

Die betagte Frau wird über Stunden unter Druck gesetzt. Und sie ist froh, dass die angeblichen Ermittlungsbehörden auch ihre Schmuck- und Münzsammlung als Kaution akzeptieren wollen. Es ist schließlich 17 Uhr, als ein vermeintlicher Mitarbeiter an der Tür klingelt und die Wertsachen abholt. „Die Täter verwendeten dabei die übliche Drohung, dass die Frau unter Schweigepflicht steht und niemanden etwas sagen darf“, stellt Polizeisprecherin Ilona Bonn fest.

Keine Frage: Das Geschäft der Anrufbetrüger bleibt lukrativ. Landesweit steigt Jahr für Jahr die Schadensumme. Diese hat sich von 6,8 Millionen Euro im Jahr 2017 auf inzwischen 15,2 Millionen im vergangenen Jahr mehr als verdoppelt, wie das baden-württembergische Innenministerium feststellen muss. Dabei machen die Maschen falsche Polizisten und Schockanruf inzwischen 75 Prozent der Telefondelikte aus. Der seit über 20 Jahren praktizierte Enkeltrick wird in einem Viertel der Fälle angewendet.

Ermittlungserfolge wohl ohne Abschreckungseffekt

Dabei dürfte sich der Täterkreis der Drahtzieher und Regisseure am Telefon so sehr erweitert haben, dass selbst die zunehmenden Ermittlungserfolge der Polizei offenbar keinen Abschreckungseffekt mehr haben. Trotz Verhaftungen und Gerichtsverfahren wachsen unzählige Täter nach.

Der größte Schlag gegen die Tätermafia, die bevorzugt von Callcentern in der Türkei aus die Fäden zieht, ist in diesem Jahr der Münchner Polizei gelungen. Unter anderem mit dem Polizeipräsidium Heilbronn wurde in Izmir die Zentrale einer Bande ausfindig gemacht. Im Dezember 2020 hatten türkische Behörden zugegriffen – und den „Erfinder“ der falschen Polizisten dingfest gemacht. Der heute 33-jährige Amar S., der einem berüchtigten Clan zugerechnet wird, soll im Jahr 2012 spektakulär während einer Gerichtsverhandlung in Bremen geflüchtet sein. Nach seiner Flucht in die Türkei soll er das Geschäftsmodell der vorgetäuschten Polizei-Anrufe aufgebaut haben.

400 Jahre Haft für den türkischen Bandenchef

Am Montag verkündete die Münchner Polizei, dass es in Izmir nach einem einjährigen Prozess bei einer Kammer für organisierte Kriminalität überaus hohe Haftstrafen gegeben habe. Der Bandenchef etwa wurde nach türkischem Recht zu 400 Jahren und sechs Monaten Haft verurteilt. Die 67 Angeklagten sollen über 120 Millionen Euro Schaden angerichtet haben. „Welche Taten im Einzelnen nun Bestandteil des Urteils sind, können wir augenblicklich nicht feststellen“, sagt der Münchner Polizeisprecher Benjamin Castro Tellez auf Anfrage. Das Urteil habe aber sicherlich Signalwirkung.

Unabhängig davon haben die Stuttgarter Fahnder der Ermittlungsgruppe Pitfall in diesem Jahr sechs tatverdächtige Kuriere erwischt. Mit Festnahmen von Möhringen bis Stuttgart-Ost, bei denen zwei Frauen im Alter von 16 und 30 Jahren sowie 24 bis 43 Jahre alte Männer in U-Haft kamen.

Gebremst hat das niemanden: „Die Zahl der Fälle“, so die Stuttgarter Polizeisprecherin Bonn, „ist auf einem konstant hohen Niveau.“ Mit hohem Dunkelfeld. Immerhin hat die 89-jährige Cannstatterin ihre vermeintliche Schweigepflicht gebrochen. Sie kam nämlich doch mit ihrer Tochter ins Gespräch – und erstattete am Donnerstag Anzeige.