Luftsprünge der Begeisterung im Weltweihnachtscircus Stuttgart: Bello Nock, ein guter alter Bekannter auf dem Cannstatter Wasen, ist laut „Time-Magazine“ der „beste Clown der USA“. Foto: Lichtgut/Julian Rettig

Wie beschreibt man eine Show, die nur aus Höhepunkten besteht? Ein Wort reicht: Wahnsinn! Allein die Begeisterung, mit der die Artisten beim Weltweihnachtscircus nach drei Jahren Pause auftreten und das Publikum mitreißen, ist weltrekordverdächtig.

Dieser junge Mann ist das One Wheel Wonder vom Wasen, das Wunder auf einem Rad. Der US-Artist Wesley Williams passt so fabelhaft in die neue Show, die am Donnerstagabend Premiere feiert, weil er als Solist mit dem Willen zum Sich-selbst-Überbieten genauso ehrgeizig ist wie der gesamte Weltweihnachtscircus mit über 100 Artisten.

Erst tritt der Extrem-Einradfahrer auf einem niedrigen Gefährt in die Pedale. Von Mal zu Mal steigert er die Höhe seiner Fahrmaschinen. Wenn das Publikum glaubt, nix geht mehr, setzt Williams noch eins drauf. Am Ende ist sein Riesenrad neun Meter hoch – damit thront er auf dem höchsten Fahrrad der Welt, mit dem er sogar ins Guinness-Buch der Rekorde hineingeradelt ist.

Henk van der Meijden legt immer noch eine Schippe drauf!

Was Wesley vorführt, gelingt der artistischen Topelite ebenso. Wenn man denkt, es ist keine Steigerung mehr möglich, weil alles schon so unglaublich gut gewesen ist, legt Zirkuschef Henk van der Meijden noch eine Schippe drauf. Und das seit 28 Jahren!

Chapeau! Die neue Ausgabe ist noch viel besser, noch emotionaler, noch poesievoller, noch aufregender als alles, was wir bisher unterm Grand Chapiteau erlebt haben.

Das Premierenprogramm ist lang, aber nicht langweilig. Kaum hat man einen Adrenalin-Kick verdaut, sind die Hände noch nass geschwitzt, erwärmt sich die Seele an der rührenden Hommage an die verstorbene Tierlehrerin Rosi Hochegger, deren Pferd Cyrano sich bei Merrylu Cassely, der Schwester von TV-Star René Casselly, herzallerliebst schlafen legt. Ach, geht das unter die Haut!

Wird es nicht schwierig für Maestro van der Meijden, haben sich manche gefragt, wenn er beim Comeback auf Artisten aus China (wegen Covid) und aus Russland (wegen des Ukraine-Kriegs) verzichten muss, die Garanten sind für Sensationen? Wer die neue Show mit 21 Nummern sieht (fünf Goldene-Clown-Preise in einem Programm), kennt keinen Grund, etwas zu vermissen. Allein die Begeisterung, mit der die Zirkusheros nach Jahren der Entbehrungen auftreten und das Publikum mitreißen, ist weltrekordverdächtig. Alle sind heiß aufs Spielen! Bei Artisten ist’s wie bei Fußballern: Sie wollen in die Champions League! Die Besten der Manege wollen also nach Stuttgart und Monte Carlo.

Alles funktioniert noch immer live

Die 28. Show ehrt Zirkusträume von einst, feiert Zeiten vor 300 Jahren, in denen fürs Staunen nicht digital getrickst werden konnte, als keiner Instagram brauchte. Weißclown Yann Rossi verkörpert in der Tradition von Grock eine Botschaft: Magie hält ewig, berührt mit Poesie. Alles funktioniert noch immer live, dies macht die besondere Atmosphäre aus. Gleichzeitig verbindet sich der in Nostalgie schwelgende Weltweihnachtscircus mit der Zukunft. René Casselly, ein Zirkuskind der siebten Generation, ist als Sieger der TV-Shows „Ninja Warrior“ und „Let’s Dance“ ein Held der heutigen Zeit und ein Schwarm junger Menschen. Sein Pas de trois auf dem Pferderücken, vorgeführt mit der Schwester und der Freundin, ist eine Weltpremiere und der ganze Stolz des 85-jährigen Henk van der Meijden, der mit Tochter und Enkel aus Holland angereist ist – gleich zwei Generationen stehen bereit, sein Erbe irgendwann mal fortzuführen. Das Pferde-Trio darf übrigens mit der frenetisch gefeierten Nummer auch nach Monte Carlo.

Der Regisseur ist in Stuttgart geboren, als die Eltern auf Tour waren

Florian Richter, der Regisseur der neuen Show, hat eine besondere Beziehung zu Stuttgart: In dieser Stadt ist er 1977 geboren, als seine Eltern auf Zirkustournee waren. Längst ist Stuttgart nicht nur Weltklasse mit Autos und Ballett, sondern auch mit der Manegenkunst, die Richter in raffinierter Abfolge, mit großen Gefühlen, farbenfroh und vor allem als Verneigung vor der Tradition inszeniert. Es regnet Gold bei Yves & Ambra in der Luft, die zuvor in Las Vegas waren. Publikumsliebling Bello Nock stürzt sich wie einst Buster Keaton in die verrückte Welt, die er mit Witz und tollkühner Akrobatik beglückt – die Hochstehfrisur verrutscht nie dabei.

Für Begeisterung sorgen auch der Mongolische Staatscircus, Peitschen knallende Gauchos aus Argentinien, Profitänzerin Kathrin Menzinger beim Zirkusdebüt, Jongleur Victor Krachinov, das Trapez-Duo A & J, der fliegende Weihnachtsengel Olga aus der Ukraine, die Freiheitsdressur des Italieners Flavio Togni, die Handstand-Brüder Vardanyan, die Wilhelm-Tell-Jünger The Jasters, ein elfköpfiges Orchester und noch andere mehr. Wegschauen müssen viele bei den Gerlings aus Kolumbien, die mit der Sieben-Mann/Frau-Pyramide am Trapez den Atem rauben.

Was für ein Wahnsinn! Danke, dass wir für emotionale Stunden so herzergreifend die harten Zeiten draußen vergessen dürfen.

Vorverkauf Karten für die Vorstellungen bis zum 8. Januar gibt es unter 0711 / 6 74 47 70.