SOS-Kinderdorfmutter Annette Schnerr hat sechs Jungen und Mädchen um den Esstisch versammelt, es gibt Ente mit Rotkraut – und danach ist Bescherung. Foto: Gottfried Stoppel

Auch im SOS-Kinderdorf Württemberg in Schorndorf-Oberberken ist Weihnachten eine ganz besondere Zeit im Jahr. Mehr als 80 Kinder aus schwierigen familiären Verhältnissen werden dort betreut – und haben ihre ganz persönlichen Weihnachtswünsche.

Beide Daumen hoch! Wenn es um Weihnachten geht, gibt es für die kleine Leonie keine zwei Meinungen: „Heiligabend gefällt mir am besten, da kommt der Weihnachtsmann und es gibt Geschenke“, sagt die Zehnjährige, greift sich wieder ihre Gabel und schnappt sich noch ein Stückchen vom leckeren Königsberger Klops. Sie und ihre Mitbewohner im Haus des SOS-Kinderdorfs müssen allerdings noch ein bisschen warten bis zur Bescherung. Immerhin: der Baum ist schon schön geschmückt und auch ein paar Geschenke liegen parat – Weihnachten kann kommen.

Der Nikolaus kam zwei Mal vorbei

Der Nikolaus war pünktlich. Er kam sogar zweimal vorbei, berichten die Kinder. „Wir haben unsere geputzten Stiefel rausgestellt und morgens waren sie gefüllt“, sagt Veronica. Am Abend kam er dann noch mal. „Mit einem goldenen Buch und er wusste genau Bescheid über jeden von uns“, sagt Kevin. Etwa, dass er gut Klavier spielen kann, oder dass Marc ein guter Fußballer ist.

Wie gut Veronica und Jasmin singen können, davon durfte sich die versammelte Dorfgemeinschaft bereits bei der großen Weihnachtsfeier im SOS-Kinderdorf mit rund hundert Beteiligten überzeugen: begleitet von Kevin am Klavier sangen sie „Hallelujah“ von Leonard Cohen. „Und ich habe nicht einen schiefen Ton gehört“, lobt Rolf Huttelmaier, der Leiter des Dorfs. Auch ihre SOS-Kinderdorfmutter Annette Schnerr ist voll des Lobes. Und vor allem auch dankbar, dass Spender immer wieder dazu beitragen, dass ihre Pflegekinder im SOS-Kinderdorf so schöne Weihnachten feiern dürfen: „Dass es uns so gut geht, ist nicht selbstverständlich.“ Die Jungen und Mädchen kommen aus schwierigen familiären Verhältnissen. „Da ist es wichtig für die Kinder, dass für die Grundlagen gesorgt ist: Kleidung, Essen, Sicherheit und Geborgenheit.“

Sich ausprobieren und Selbstvertrauen aufbauen

Die SOS-Kinderdorfmütter leben Tag und Nacht und auch am Wochenende mit ihren Kindern zusammen. Huttelmaier: „Die Mütter begleiten die Kinder durchs Leben, unser Wunsch sind tragfähige Beziehungen.“ Unterstützt werden sie von weiteren pädagogischen Fachkräften, und je nach persönlicher Situation auch von Ehe- oder Lebenspartnern. Im Fall von Annette Schnerr ist das Joachim Haas, der als SOS-Dorfmeister arbeitet; das heißt, er übernimmt die Pflegearbeiten und ist für den Bau- und Reparaturbereich der Dorf-Gebäude verantwortlich. Dazu gehören auch Werkstätten, in denen die Kinder etwa töpfern, nähen, malen und mit Holz arbeiten können, um sich auszuprobieren und positive Erfahrungen zu sammeln – und nicht zu vergessen: um Geschenke für ihre Freunde, leiblichen und Pflegeeltern zu basteln. Leonie zum Beispiel hat einen „Kerzenständer aus Kerzen gebastelt“, die anderen Mädchen haben zum Beispiel eine Holzuhr gezimmert und Taschen genäht. „Es ist wichtig, dass sich die Kinder ausprobieren und auf diese Weise Selbstvertrauen bekommen“, sagt Huttelmaier. „Auch von Bedeutung ist, dass sie miteinander spielen und Freunde gewinnen.

Der Alltag einer Familie im SOS-Kinderdorf unterscheidet sich in Teilen nicht von dem anderer Familien. Allerdings ist er mitunter stark geprägt von den besonderen Herausforderungen, die die Mädchen und Jungen mitbringen. Warum genau die Kinder ins Kinderdorf gezogen sind, erzählen die Mitarbeiter nicht. Aber sie haben zum Teil traumatische Erlebnisse hinter sich.

Keine Konkurrenz zu den leiblichen Eltern

„Wir legen großen Wert auf eine gute Zusammenarbeit mit den leiblichen Eltern“, sagt der Einrichtungsleiter. „Gegenüber den Kindern reden wir wertschätzend von den Eltern, wir wollen nicht, dass die Kinder in einen Loyalitätskonflikt geraten.“ Die Kinderdorfmutter versuche, den Kindern zu geben, was sie wirklich brauchen, „sie ist eine Art ergänzende Mutter und ermöglicht eine emotionale Mutter-Kind-Beziehung“. Es werde darauf geachtet, nicht in Konkurrenz zu den Eltern zu treten „Das gelingt uns sehr oft.“

Generell nehmen die Herausforderungen in unserer Gesellschaft zu, sagt Huttelmaier, nennt neben Corona und Krieg auch die wachsende Armut in der Bevölkerung. Psychische Erkrankungen der Mütter seien oft ein Grund, weshalb Kinder ins Kinderdorf kommen. Auch die hohe Scheidungsrate und daraus resultierende Verhältnisse in Patch-Work-Familien könnten besondere Konflikte hervorbringen. „Oft lassen sich die neuen Väter nicht auf die Kinder ein und umgekehrt – da fallen oft die Kinder aus dem Nest“, sagt Huttelmaier und zitiert eine Untersuchung, wonach eines von zwölf Kindern mit Stiefelternverhältnissen auf stationäre Hilfe angewiesen sei. So sei es für ihn nicht verwunderlich, dass bei den Kindern vor allem der Wunsch vorherrsche „dass Mama und Papa wieder zusammenkommen“.

Gastfamilien und SOS-Kinderdorfmütter gesucht

Amira und ihre Mitbewohner haben ihren Wunschzettel schon geschrieben. Sie wünscht sich eine Einhornbettwäsche, Kevin hätte gern einen Beyblade-Kampfkreisel zum Spielen. Dann sagt er noch: „Ich wünsche mir auch, dass meine Familie wieder vereint ist.“ Am ersten Weihnachtsfeiertag besucht er seine leibliche Mama. Auch Leonie fährt über die Feiertage zu ihrer Mutter. Fragt man Rolf Huttelmaier nach seinem Wunsch, dann muss er nicht lange überlegen: „Wir suchen Gastfamilien, die 14- bis 17-jährige Jungen und Mädchen aus Syrien und Afghanistan aufnehmen, die ihr Land verlassen mussten.“ Für Unterhalt und fachliche Begleitung werde gesorgt. Auch weitere SOS-Kinderdorfmütter seien willkommen – und das nicht nur an Weihnachten.

SOS-Kinderdorf Württemberg

Gründung
 Das SOS-Kinderdorf in Schorndorf-Oberberken wurde 1960 gegründet und ist eines von 16 SOS- Kinderdörfern in Deutschland. Das Konzept wurde von dem Österreicher Hermann Gmeiner entwickelt. Die Grundidee ist, dass Kinder, deren leibliche Eltern sich aus verschiedenen Gründen nicht um sie kümmern können, in familiärem Umfeld aufwachsen.

Dorfleben
 Im SOS-Kinderdorf werden aktuell mehr als 80 Mädchen und Jungen in zehn Kinderdorffamilien mit je einer Kinderdorfmutter betreut. Sie ist rund um die Uhr bei den Kindern – in einer Verbindung aus Arbeit und Leben. Unterstützt wird sie dabei von weiteren pädagogischen Fachkräften.

Angebote
 Neben dem Dorf gehören zum Wirkungsbereich des SOS-Kinderdorfs Wohngruppen von Jugendlichen in Schorndorf und Rudersberg. Es gibt unterstützende Hilfen für Jugendliche in Schulen sowie ambulante Hilfen für Familien. Außerdem ist das Kinderdorf Träger von zwei Kindergärten, einer Krippe sowie einem Waldkindergarten.