Güterzüge mit Kohle erhalten in bestimmten Situation Vorfahrt. Foto: IMAGO//Westlight

Um die Energieversorgung zu sichern, erhalten einschlägige Güterzüge Vorrang auf der Schiene. Das dürfte noch mehr Probleme im Personenverkehr verursachen.

Bahnkunden im Personenverkehr müssen sich in den kommenden Monaten auf noch mehr Verspätungen, ausfallende Züge und verpasste Anschlüsse einstellen. Wie das Bundeskabinett am Mittwoch in Berlin beschloss, sollen angesichts der gegenwärtigen Energiekrise zwingend notwendige Kohle- und Mineralöltransporte für einen begrenzten Zeitraum Vorrang auf der Schiene erhalten.

Brennstoffe müssen oft über lange Strecken transportiert werden

Hintergrund ist Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine und die damit einhergehende Reduzierung der russischen Gaslieferungen nach Europa. Um im Stromsektor Gas einzusparen, setzt die Bundesregierung vorübergehend wieder verstärkt auf Kohle- und Ölkraftwerke. Die Brennstoffe müssen oft über lange Distanzen herangeschafft werden. Zugleich geht es darum, den Betrieb von Raffinerien sowie die Versorgung des Landes mit Mineralölprodukten auch ohne russisches Erdöl zu ermöglichen.

„Wir wollen uns so schnell wie möglich aus der Klammer der russischen Energieimporte befreien“, sage Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) am Mittwoch. Um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten, müssten dafür auch die Lieferwege umgestellt werden. Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) betonte, dass durch das Niedrigwasser die Binnenschifffahrt nur eingeschränkt funktioniere und wichtige Bahntrassen schon jetzt stark ausgelastet oder gar überlastet seien. „Wir müssen deshalb überlegt und in sorgfältiger Abwägung Transporte priorisieren. Das ist keine leichte Entscheidung, weil es im Zweifel bedeutet, dass in diesen Fällen andere Züge warten müssen.“

Es gibt einen gewaltigen Investitionsstau

Im deutschen Bahnsystem herrscht seit geraumer Zeit ohnehin das blanke Chaos. Das gilt gleichermaßen für den Personen- wie für den Güterverkehr. Es gibt einen gewaltigen Investitionsstau im Schienennetz und deshalb viele Bau- und Langsamfahrstellen. Der Deutschen Bahn als größtem Anbieter fehlt es an Zügen und Personal. Von den Fernverkehrszügen des Staatskonzerns kamen im vergangenen Monat nicht einmal 60 Prozent einigermaßen pünktlich ans Ziel.

Der Vorrang für Energietransporte dürfte das Bahnsystem weiter unter Stress setzen. Der Fahrgastverband Pro Bahn äußerte am Mittwoch gleichwohl Verständnis für die Pläne. „Dass das sein muss, steht außer Frage“, sagte der Ehrenvorsitzende des Verbands, Karl-Peter Naumann, unserer Redaktion. Naumann mahnte aber eine enge Abstimmung aller Beteiligten an – also des Netzbetreibers, staatlicher Stellen sowie von Personen- und Güterbahnen. Am besten wäre es, wenn Bundesverkehrsminister Wissing die Akteure zu sich ins Ministerium einlüde. „Mit einer Verordnung bekomme ich hier keine Lösung hin.“

Forderung nach rechtzeitigen Informationen für Bahnkunden

Naumann verlangte auch eine rechtzeitige Information der Bahnkunden für den Fall, dass sich Personenzüge aufgrund von priorisierten Güterzügen verspäten oder ganz ausfallen. Die Kunden müssten ihre Reise verlässlich planen können, forderte der Pro-Bahn-Vertreter. Mit Blick auf mögliche Auswirkungen der geplanten Regelung sagte Naumann: „Das Störpotenzial ist erheblich, weil sie letztlich den gesamten Fahrplan damit durcheinanderschmeißen.“ In Deutschland teilen sich Personen- und Güterzüge häufig dieselben Trassen. Personenzüge sind aber in der Regel deutlich schneller unterwegs. Auch auf den ICE-Hochgeschwindigkeitsstrecken fahren Güterzüge.

Die Verordnung der Bundesregierung sieht vor, dass Energietransporte nur dann Vorrang gegenüber anderen Zügen erhalten sollen, wenn dies „zur Gewährleistung der Versorgung mit Energieträgern erforderlich ist“. Dies ist etwa dann der Fall, wenn es darum geht, den Betrieb eines Kraftwerks oder einer Raffinerie ohne Unterbrechung aufrechtzuerhalten oder sicherzustellen, dass sich Kerosin-Tanklager an Flughäfen nicht komplett leeren.

Vorschriften sind auf sechs Monate befristet

Entsprechende Transporte müssen mit einer Frist von zehn Tagen angemeldet werden. Netzbetreiber und Dienstleister sollen bei der Abwicklung solcher Transporte darauf achten, „dass der Ablauf anderer Verkehre nicht mehr beeinträchtigt wird, als dies zur Sicherstellung des übergeordneten Interesses der Energieversorgung erforderlich ist“.

Sämtliche Vorschriften sind auf sechs Monate befristet. Es geht also darum, über den Winter zu kommen. In der kalten Jahreszeit ist der Energiebedarf besonders hoch. Für die Transporte ist auch nicht das gesamte Schienennetz vorgesehen, sondern nur ein bestimmtes Energiekorridor-Netz. Das ist allerdings umfangreich: Bei Mineralöl und Mineralölprodukten umfasst es etwa Strecken vom Hamburger Hafen in fast alle deutschen Industriezentren. Bei der Kohle geht es um die Belieferung von Kraftwerken und Industriebetrieben in allen Winkeln des Landes über Seehäfen, Binnenhäfen sowie aus Nachbarländern wie Tschechien und den Niederlanden.