Eigentlich ist der Journalist Arno Luik begeisterter Zugfahrer. Doch die Bahn hat ihm die Liebe zum Bahnfahren in den vergangenen Jahren gründlich vergällt. Foto: Ulli Fetzer - Ulli Fetzer

Journalist Arno Luik ist schon immer gerne Bahn gefahren. Doch Pleiten, Pannen und das Milliardenprojekt „Stuttgart 21“ haben ihm die Freude am Schienenverkehr vergällt.

StuttgartArno Luik zählt zu den Edelfedern des Hamburger Wochenmagazins „Stern“ – die Deutsche Bahn gehört zu seinen bevorzugten Themen. Schon in jungen Jahren war er begeisterter Bahnfahrer, doch Pleiten, Pannen und das Milliardenprojekt „Stuttgart 21“ haben ihn zu einem der profiliertesten Bahnkritiker im Land gemacht. Im Esslinger Kulturzentrum Dieselstraße stellt Arno Luik am Dienstag, 19. November, ab 19.30 sein neues Buch „Schaden in der Oberleitung“ vor, in dem er „das geplante Desaster der Deutschen Bahn AG“ beleuchtet. Eine Lesung in Esslingen hat für den Hamburger Journalisten etwas Besonderes, schließlich hat er als Kind häufig seine Großeltern im Stadtteil Sulzgries besucht – angereist ist er damals natürlich mit dem Zug. Im Gespräch mit unserer Zeitung erklärt Arno Luik, was bei der Bahn nach seiner Einschätzung alles schiefläuft.

Sie haben die Bahn immer gemocht, gehören heute aber zu den schärfsten Kritikern. Wie passt das zusammen?
Ich bin schon als Kind und als Jugendlicher gern Zug gefahren. Mein Vater war Bahnhofsvorsteher von Königsbronn – der letzte übrigens, bevor die Bahn so nach und nach alle kleineren Stationen dichtmachte. Ich habe auf dem Bahnhof gespielt, bin mit der Rangierlok, dem „Behle“, rumgefahren – aber ich blicke nicht nostalgisch zurück auf diese Zeit. Dennoch: Die Deutsche Bundesbahn war bis in die frühen 90er ein nahezu perfekt funktionierendes System. Und es ist ein gesellschaftspolitisches Vergehen, unverzeihlich, dass diese Bahn, nach der man nicht nur sprichwörtlich die Uhr stellen konnte, in den vergangenen 25 Jahren so ramponiert, systematisch so demontiert wurde, dass sie heute, ebenfalls unverzeihlich, fast irreparabel ist. Das ist leider keine Polemik.

Macht es Ihnen überhaupt noch Spaß, Bahn zu fahren?
Nicht wirklich. Man kann sich ja auf diese Bahn nicht mehr verlassen. Ich hatte neulich einen Termin bei der ARD in Berlin. Um rechtzeitig dort zu sein, nahm ich von Hamburg kommend einen Zug früher als eigentlich notwendig. Nur: Mein Zug hatte bei der Abfahrt 52 Minuten Verspätung, ich fragte den Schaffner: „Warum?“ Er hatte keine Erklärung. Und wie es um die Bahn steht, zeigt sich auch an diesem Schaffner: Er hatte keine Uniform an, er war in Privatkleidern, hatte nur so einen Bahnstecker am Revers, er sagte: „Ich bin nun seit einem Monat bei der Bahn, aber sie schaffen es bisher nicht, mir eine Uniform zu geben.“ Er klang traurig. Da ist diese Bahn in 140 Ländern aktiv, mit unserem Geld, aber einen Angestellten rechtzeitig einzukleiden, das schaffen sie nicht. Da schwadronieren die Bahn-Oberen von Digitalisierung und autonom fahrenden Zügen – aber analog, in der Wirklichkeit, herrscht oft eine Tristesse fatale.

Heute gehört es fast zum guten Ton, über die Bahn zu lästern. Ist die Kritik berechtigt?
Ich lästere nicht. Meine Kritik speist sich aus Verwunderung. Aus Enttäuschung. Deutschland nennt sich Hochtechnologieland. Deutschland ist stolz auf seine Ingenieure und Techniker. Aber diese Bahn rumpelt so peinlich daher – nicht bloß unwürdig für ein Industrieland, sondern ein tägliches Ärgernis für Millionen Reisende und Pendler. Ein Auslöser, mein Buch über die Bahn zu schreiben, war ein Lachanfall. Es war im Januar 2018 auf der Fahrt von Königsbronn nach Ulm. Beim Halt in der Kreisstadt Heidenheim krächzte es aus den Lautsprechern, der Zugchef meldete sich, um im breiten Schwäbisch dies zu sagen: „Sie haben es wahrscheinlich schon gemerkt, dass unsere Klos defekt sind. Ich weiß auch nicht, warum das so ist. Aber auf Gleis 3 steht ein Zug, dort funktionieren die Klos. Wenn Sie also unbedingt müssen – gehen Sie durch die Unterführung rüber, wir warten auf Sie.“ Unfassbar. Sätze, die man vielleicht in einem sogenannten Entwicklungsland erwarten würde und hinnehmen könnte – aber beim Exportweltmeister Deutschland?

Wie konnte es dazu kommen, dass ein Unternehmen, das lange Zeit für Solidität und Pünktlichkeit stand, plötzlich so viele negative Schlagzeilen schreibt?
140 000 Züge fielen 2017 komplett aus. Ein Grund für diese Verwahrlosung? Die Bahnreform von 1994, nach der die Bahn an die Börse, also privatisiert werden sollte. Aber für die Börse muss man sexy sein, und das heißt: sparen, wo es nur geht. An Menschen, Material, Reparaturen. Unter den Bahnchefs Dürr, Mehdorn und Grube wurde die Bahn, getrieben auch von der Politik, also systematisch kaputtgespart. 1994 gab es noch mehr als 130 000 Weichen und Kreuzungen, jetzt sind es noch etwa 70 000. 1994 betrug die Netzlänge mehr als 40 000 Kilometer, jetzt sind es bloß noch 33 000 Kilometer. Aber jede rausgerissene Weiche, jedes demontierte Gleis hat Folgen: Züge können sich nicht mehr überholen, auf weniger Gleisen ballt sich mehr Verkehr, das System ist überlastet und überfordert – Verspätungen werden zum Normalfall. Fahrplan ade. Außerdem: Die Reparaturintervalle wurden gespreizt, Reparaturwerkstätten wurden geschlossen. So sind heute Schienen und Fahrzeuge oft in erbarmungswürdigem Zustand, sie können nicht die volle Leistung erbringen. Fahrplan ade. 280 ICEs hat die Bahn, derzeit sind rund 40 von ihnen nicht einsatzbereit, und die übrigen sind meist mit irgendwelchen Defekten unterwegs.

Wenn wir wirksam gegen Verkehrskollaps und Klimawandel angehen wollen, müssen wir Autofahrer in großem Stil auf die Schiene holen. Tatsächlich sind – gerade im Großraum Stuttgart – Verspätungen, Zugausfälle und überfüllte Wagen an der Tagesordnung. Ist die Bahn überhaupt darauf vorbereitet, eine Hauptrolle bei der Verkehrswende zu spielen?
Tja. Getrieben von der „Fridays for Future“-Bewegung versprechen nun Bahn und Politik sehr viel. Nur: In Sachen Versprechungen ist die Bahn schon immer großartig. Bahnchef Dürr versprach mal Milliarden, um die Bahnhöfe rauszuputzen, gerade auf dem Land. Was sehen Sie heute dort? Verfallene, verkommene Stationen. Bahnhöfe ohne Personal und ohne Service. Traurige Tatsache: In den vergangenen 25 Jahren ist die Bahn, die einzig vernünftige ökologische Alternative zu Auto und Flugzeug, so zurückgebaut, die Infrastruktur so beschädigt, so viel wertvolles Bahnland verhökert worden, dass nur noch sehr schwer zu realisieren ist, was die Vernunft nicht nur wegen des Klimawandels so dringend verlangt: eine optimal funktionierende Bahn, in den Städten, auf dem Land. Aber davon sind wir weit entfernt.

Um so gut zu funktionieren wie in der Schweiz, was das Mindeste für diese Industrienation wäre, müsste die Bahn ganz rasch 25 000 Kilometer Strecke zusätzlich haben. „Stuttgart 21“ wird viel teurer als geplant. Wird dafür wenigstens alles besser?
Nein, nichts wird besser. Auch wenn es die S21-Verantwortlichen, auch die Regierenden in Stuttgart, nicht hören wollen – S21 war, ist und bleibt unverantwortlich: ökonomisch, ökologisch, von der Sicherheit, vom Brandschutz her. S21 ist, gerade in Zeiten des Klimawandels, ein nicht verantwortbarer Rückbau der Eisenbahn-Kapazität. S21 ist überdies ein staatlich subventionierter Klimakiller. Für S21 werden in Stuttgarts Untergrund 60 Kilometer Tunnelröhren verbaut. Der Bau von einem Kilometer Eisenbahntunnel setzt so viel CO2 frei wie 26 000 Autos, die im Jahresschnitt 14 000 Kilometer fahren. Tabuisiert wird auch, dass S21 schon im Normalbetrieb gesundheitsgefährdend ist: In der Halle des Tiefbahnhofs wird es, unter anderem bedingt durch das Abbremsen in den Tunneln, sehr große Mengen an Feinstaub geben. Etwas überspitzt: Das Neckartor ist dagegen ein Naherholungsgebiet.

Sie waren immer einer der Kritiker dieses Milliardenprojekts. Vieles von dem, was Sie vorhergesagt haben, ist mittlerweile eingetroffen und wurde in vielen Fällen von der Realität sogar übertroffen. Empfinden Sie Genugtuung – oder ist es eher der Ärger darüber, dass man auf die mahnenden Stimmen nicht gehört hat?
Was ich, wie Sie sagen, „vorhersagte“, beruhte auf bahn-internen Dokumenten, die mir zugespielt worden waren. Ich sagte also 2010, 2011, 2012 nur voraus, was die S21-Verantwortlichen bei der Bahn und der Politik auch wussten – aber verschwiegen. Das Enttäuschende für mich war, dass zu viele Bürger zu lange den schönen Versprechungen eben jener Verantwortlichen glaubten.

Durch die Neubaustrecke Stuttgart – Ulm wird deutlich Fahrzeit eingespart. Wurde jemals gegengerechnet, wie viel Zeit Autofahrer und Bahnreisende durch Verspätungen, Zugausfälle, Sperrungen und Umleitungen verloren haben?
Der Zeitgewinn, anders als die S21-Propagandisten noch immer sagen, bewegt sich im Bereich von einigen Minuten. Die Neubaustrecke nach Ulm, diese Tunnel durch die Schwäbische Alb, sind grotesk: Vom tiefsten Punkt der Strecke führen sie hinauf auf den höchsten Punkt der Strecke – der Scheitelpunkt liegt übrigens 100 Meter höher als der der alten Strecke. Eine Folge: Mühsam schnaufen und schwitzen die ICEs den Berg hinauf, sie können ihre Geschwindigkeit gar nicht ausspielen. Und oben angelangt, wenn sie dann nach Ulm runterrollen, dann fegen sie auch nicht, da müssen sie sehr früh wieder abbremsen. Also: Das wird ein Rauf- und Runter- Gekrieche. Im Klartext: Rund 15 Milliarden Euro, damit man etwas schneller in Ulm ist. Und das wird erkauft durch die Zerstörung von Landschaft und wertvollem Ackerland. Und der Reisende wird zum Wurm gemacht, nicht schön das. Schlimmer noch: Im eingleisigen Tunnel steigt der Energieverbrauch um 100 Prozent. Ich habe es mir von einem Experten ausrechnen lassen: Dieses Fahren durch die steilen Tunnels verschlingt zusätzlich so viel Energie, wie eine Stadt mit 35 000 Einwohnern verbraucht. Unverantwortlich. Der Öko-Bonus der Bahn pulverisiert sich.

Großprojekte wie dieses wollen finanziert sein. Gleichzeitig besteht in anderen Bereichen der Bahn ein deutlicher Sanierungsstau. Muss die Bahn ihre Schwerpunkte überdenken?
Sie müsste. Aber sie tut es nicht. Wenn Ratio noch zählen würde, müsste S21 sofort gestoppt werden. Auch diese Neubaustrecke. Es sind babylonische Monumente des Unsinns.

Zum Ende Ihres Buches fragen Sie: „Ist diese Bahn noch zu retten?“ Ist sie das?
Ach, muss ich das jetzt verraten?

Das Interview führte Alexander Maier.

Arno Luik und sein Buch „Schaden in der Oberleitung“

Der Autor: Arno Luik hat Amerikanistik und Sport in Tübingen und Wales sowie Politik in den USA studiert. Er war Reporter für „Tempo“ und die „Wochenpost“, Autor für „Geo“ und den „Tagesspiegel“, war Chefredakteur der „taz“ und Vize-Chef der Münchner „Abendzeitung“. Seit 2000 ist er Autor der Wochenzeitschrift „Stern“. Er hat sich als „Deutschlands führender Interviewer“ einen Namen gemacht.

Die Auszeichnungen: 2008 wurde Arno Luik vom „Medium Magazin“ als Kulturjournalist des Jahres ausgezeichnet, für seine Berichterstattung zum Bahnprojekt Stuttgart 21 erhielt er 2010 vom Netzwerk Recherche den „Leuchtturm für besondere publizistische Leistungen“. Bei der öffentlichen Anhörung des Deutschen Bundestags zum Thema „Offene Fragen zum Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 aufklären“ war Arno Luik 2015 als Sachverständiger eingeladen.

Das Buch: In „Schaden in der Oberleitung“ (Westend-Verlag, 20 Euro) setzt sich Arno Luik mit den immer offensichtlicheren Problemen der Deutschen Bahn und dem Milliardenprojekt „Stuttgart 21“ auseinander. „Spannend wie ein Thriller“, urteilte Sahra Wagenknecht.

Die Veranstaltung: In einer politischen Soiree im Esslinger Kulturzentrum Dieselstraße bringt Arno Luik am Dienstag, 19. November, ab 19.30 Uhr seine Kritik an der Konzernstrategie der Bahn auf den Punkt. Und er erläutert, was er ändern würde, damit eine ökologische Verkehrswende gelingen kann und die Klimaziele erreicht werden können.