Gerade erst hat die Nationalakademie der Wissenschaften Leopoldina Erkenntnisse veröffentlicht, nach denen psychische Belastungen in der Pandemie zugenommen haben – mit potenziell langfristigen Folgen für die Gesundheit vieler. Foto: dpa/Marius Becker

Das Virus Sars-CoV-2 hinterlässt in der Psyche der Menschen immer tiefere Spuren. Dies zeigt auch eine aktuelle Umfrage der AOK Baden-Württemberg. Eine Psychotherapeutin gibt Tipps, wie man mit seinen Ängsten umgehen kann.

Stuttgart - Das Virus Sars-CoV-2 hinterlässt in der Psyche der Menschen immer tiefere Spuren. Dies zeigt eine aktuelle Umfrage der AOK Baden-Württemberg, die unserer Zeitung exklusiv vorliegt. Demnach hatte zwar die Mehrheit – 55 Prozent der 505 teilnehmenden Erwachsenen – in den vergangenen Wochen nur zeitweise Angst, sich mit dem Corona-Virus zu infizieren; zwölf Prozent aller Befragten begleitet diese Angst aber nahezu ständig. Männer fühlten sich dabei etwas sicherer vor einer Ansteckung als Frauen, bei denen aber die Gefühlslage häufiger zwischen Sorge und Zuversicht schwankte. Sie haben sich laut der Umfrage bislang im Alltag auch mehr eingeschränkt als die Männer. Zudem wachsen die Ängste mit zunehmender Größe des Wohnorts.

Experten befürchten langfristige Folgen für die Gesundheit

Die zunehmenden Hinweise auf eine seelische Belastung beunruhigen auch die Experten. Gerade erst hat die Nationalakademie der Wissenschaften Leopoldina Erkenntnisse veröffentlicht, nach denen psychische Belastungen in der Pandemie zugenommen haben – mit potenziell langfristigen Folgen für die Gesundheit vieler. Die Fachleute fordern daher Hilfsstrukturen, insbesondere ein deutlich vergrößertes psychotherapeutisches und psychiatrisches Angebot sowie Beratungsangebote hinsichtlich Prävention und Therapie.

Das Leben mit Corona kostet Energie, viele fühlen sich ausgebrannt.

Auch die Stuttgarter Psychotherapeutin Susanne Breuninger-Ballreich befürchtet, dass vor allem Menschen, die psychisch nicht sehr gefestigt sind, durch den Fortlauf der Pandemie in eine akute Erkrankungsphase geraten können. „Zusätzlich zu den Ängsten vor Corona selbst waren es während des Lockdowns vermehrt Einsamkeit und soziale Isolation, die den Menschen zu schaffen gemacht haben“, sagt die Leiterin des Zentrums für Achtsamkeit Stuttgart (ZAS). Inzwischen seien es neben gesundheitlichen Bedenken auch existenzielle Sorgen – etwa vor drohendem Arbeitsplatzverlust, möglicher Insolvenz oder davor, Arbeit und Kinderbetreuung nicht mehr unter einen Hut zu bekommen. Das Auf und Ab von einschränkenden Maßnahmen und Lockerungen verstärke das Problem, so Breuninger-Ballreich. Das Leben mit Corona koste Energie, viele fühlen sich ausgebrannt.

Sport, Spaziergänge und Meditation können helfen

Wichtig sei es daher, auf seine eigene psychische Widerstandsfähigkeit zu achten, so die Expertin. So hilft es vielen, in Zeiten der Ungewissheit für eine bessere Tagesstruktur und ausreichend Schlaf zu sorgen. Ebenso wichtig sind kleine Auszeiten im Alltag, sei es der Sport oder ein Spaziergang, sowie Achtsamkeitsmeditation . Wer dennoch immer mehr Unlust im Leben verspürt, sollte nicht zögern, fachliche Hilfe anzufordern.

Zwar zeigt die AOK-Umfrage auch, dass ein Großteil der Befragten den Einschränkungen in der Pandemie bislang etwas Gutes abgewinnen konnte – etwa mehr Zeit für die Familie oder Projekte, die sich nun in aller Ruhe umsetzen ließen. Doch die Psychotherapeutin Breuninger-Ballreich will sich auf eine solche Momentaufnahme nicht verlassen: „Es kann sein, dass anfangs die Vorteile von Homeoffice & Co. überwogen haben – man hat mehr Zeit für die Kinder und nicht mehr so den Termindruck und den damit verbundenen Stress“, sagt die Expertin. „Oft macht sich dann aber eine innere Unruhe breit, und es wird den Betroffenen zu viel.“

Arztbesuche bloß nicht aufschieben

Zudem führt die Sorge vor einer Ansteckung mit dem Virus zu einer gesundheitlichen Gefährdung an anderer Stelle: So haben der AOK-Umfrage zufolge 16 Prozent der Teilnehmer seit März dieses Jahres von sich aus einen eigentlich geplanten Arztbesuch verschoben oder abgesagt. Fast ebenso viele (19 Prozent) haben bei einer Verletzung oder Krankheit auf einen spontanen Arztbesuch verzichtet. Zwölf Prozent habe einen Termin beim Arzt vereinbaren wollen, aber aufgrund der Pandemie keinen bekommen. AOK-Vorstandschef Johannes Bauernfeind mahnt, nicht die Fehler des Frühjahrs zu wiederholen, sondern trotz der aktuell steigenden Corona-Fallzahlen bei akuten Erkrankungen zum Arzt zu gehen oder eine Klinik aufzusuchen.