Ulrich Binder Foto: Lichtgut/Julian Rettig - Lichtgut/Julian Rettig

Ulrich Binder hat in den 40 Jahren seiner Tätigkeit für Release die Drogenberatung aus der Schmuddelecke geholt. Zum Jahreswechsel geht er in den Ruhestand.

StuttgartVier Jahrzehnte am selben Arbeitsplatz? Klingt langweilig. Aber nicht bei Ulrich Binder. Der Geschäftsführer von Release e.V. hat die Drogenberatung aus der Schmuddelecke geholt. Mit freundlicher Hartnäckigkeit gegenüber den Entscheidungsträgern hat er während seiner Amtszeit viel in der Drogenpolitik der Stadt erreicht. Und nein, einen gemütlicheren Job hätte der Kunstfreund, Weinkenner und Italien-Fan rundweg abgelehnt. Allein der Gedanke bei einer Behörde zu arbeiten belustigt den 65-Jährigen. „Die Tage, an denen ich nicht gerne zur Arbeit ging, kann ich an einer Hand abzählen“, sagt er ohne zu zögern.

Die Release Beratungsstelle in Stuttgart ist die einzige, die von den ehemals 25 in ganz Deutschland heute noch existiert. 1967 in London entstanden, war Release eine Selbsthilfebewegung, die gegen die Kriminalisierung von Drogenabhängigen kämpfte. Seit 1970 war sie auch in deutschen Städten präsent. „Viele Zentren sträubten sich gegen die Professionalisierung oder konnten sie nicht leisten“, analysiert Binder den Niedergang der Bewegung. Er selbst stieß als Streetworker-Praktikant dazu, arbeitete während des Studiums mit und trat 1980 als frisch gebackener Sozialpädagoge dort seine erste Stelle an. Die Geschäftsführung übernahm er 1989. Gezielt suchte er den Kontakt zur Politik. „Wir brauchen die Entscheidungsträger auf unserer Seite“, betont er. Seit Mitte der 1980er-Jahre warb er für die Substitution. Das bedeutet einen Ersatzstoff anzubieten, zumeist Methadon, damit die Süchtigen die Chance bekommen, sich gesundheitlich und sozial zu stabilisieren. „Die kam in Baden-Württemberg wegen seiner Betonpolitik sehr spät“, erinnert er sich, nämlich Mitte der 1990er-Jahre. Den früheren Sozialminister des Landes Erwin Vetter CDU) sowie dessen Parteikollegen Christoph Palmer und Thomas Schäuble brachte er dazu, mit den Streetworkern die Treffs der Drogensüchtigen zu besuchen und mit ihnen über deren Nöte zu sprechen. „Wir wollten zeigen, dass Drogenabhängige keine Zombies sind“, das war sein Anliegen.

Der Galerist Horst Merkle war zu dieser Zeit ehrenamtlich für die Öffentlichkeitsarbeit beim Verein zuständig und entwarf den professionellen Auftritt: Release als Corporate Identity. Zwischen den Teestubenzeiten mit Ehrenamtlichen bis zum Status quo mit 30 Mitarbeitern und Einrichtungen für Prävention, Beratung, Therapie und Arbeitsprojekte liegen 40 Jahre. Binder betont, dass er stolz auf sein Team ist, sein Nachfolger Bernd Klenk kommt deshalb aus den eigenen Reihen.

Binder selbst eignete sich betriebswirtschaftliche Kenntnisse und Kompetenzen für die Öffentlichkeitsarbeit an, 1994 hospitierte er in einer Tagesklinik für Drogensüchtige in Rom und zurück in Stuttgart stand für ihn fest: „Das machen wir hier auch.“ In Kooperation mit der Caritas entstand die Tagesklinik Tagwerk, seit 20 Jahren sind alle 22 Therapieplätze durchgehend belegt. „Drei Viertel aller Tagwerk-Klienten wurden 2018 in den ersten Arbeitsmarkt vermittelt“, darauf ist Binder besonders stolz. Seit fünf Jahren bietet Release in Zusammenarbeit mit einer ärztlichen Praxis die Diamorphinsubstitution (chemisch produziertes reines Heroin) an, eine Besonderheit, die es sonst nur noch in Karlsruhe gibt.

Beharrlich plädiert Binder seit Jahren für den legalen Zugang zu Cannabis für über 23-jährige, weil sich so der Anbau und der THC-Gehalt besser kontrollieren ließe – zum Schutz der Konsumenten. Die Aufgaben sind indes vielfältiger geworden, bei den großen Techno-Festivals sind die Release-Mitarbeiter vor Ort und verteilen Getränke, Obst sowie Safer-Use-Materialien. Neben den Partydrogen sind bei Jugendlichen heute vor allem Alkohol- und Mediensucht ein großes Thema.

Zusammen mit Merkle hat Binder das Projekt Release und Kunst aufgebaut. Die Benefiz-Verkaufs-Ausstellungen mit Werken namhafter Künstler haben dem Verein bisher eine halbe Million Euro gebracht. Die Ausstellungen und die Kontakte zu den Künstlern wird Binder weiter betreuen. Ansonsten will er viel reisen – außerdem ist das erste Enkelkind gerade ein halbes Jahr alt und die neue Rolle als Opa wartet auf ihn.