Der zehnjährige Lev aus Mariupol hat einen Kämpfer in der Metro gezeichnet. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Was Kinder nicht in Worte fassen können, malen sie. Der zehnjährige Lev aus Mariupol zeigt seine Bilder. Seit Juni ist er in Stuttgart.

Lev fühlt sich nicht gut. Der Hals schmerzt. Er hat sich erkältet. Seine Augen sind gerötet. Und überhaupt. Das Leben war schon mal schöner und sorgenfreier. Trotzdem ist er mit seiner Großmutter Irina Sandalova gekommen. Termin ist Termin. Und außerdem: Lev, das heißt ja schließlich Löwe. Und so ein Löwe ist stark.

In seinem grauen Hoodie sitzt der Junge am Tisch. Eine Schüssel mit Schokobonbons vor sich. Er rührt sie nicht an. Man sieht, dass es in seinem Kopf arbeitet. Die deutsche Sprache ist ihm noch fremd. Seit Juni ist er in Stuttgart. Seit zwei Monaten geht er in eine Willkommensklasse für ukrainische Kinder.

Lev ist zehn Jahre alt. Wie soll er die Welt um sich herum verstehen? Wenn selbst die Politiker dieser Welt nicht haben kommen sehen, was ihm und so vielen anderen Ukrainern seit acht Monaten widerfährt. Krieg, Zerstörung, Tod und der Verlust von Heimat gehört für Millionen Menschen dort zur neuen Realität. Dass Ewa Grabowska, Kulturpädagogin bei der Evangelischen Gesellschaft, die Fragen an Lev vom Deutschen ins Russische, der Sprache seiner Heimatstadt in der Ukraine, übersetzt, hilft beim Austausch über Alltägliches. Doch da sind noch andere Bilder vor Levs innerem Auge, die er jetzt nicht in Worte fassen kann und vielleicht ja auch gar nicht will. Er teilt das Schicksal aller Kinder, die Krieg und Gewalt erleben.

In der Fremde

Lev und Ewa Grabowska haben einander bei einem Sommerferienprogramm für Kinder kennengelernt. Dort gab es Nutellabrötchen zum Frühstück und Spaghetti mit Tomatensoße zum Mittagessen. Eine Art Soulfood für Kinder. Ewa Grabowska hat eine Ahnung, wie fremd man sich fühlen kann, wenn man die Sprache der anderen nicht kann. Sie kam selbst aus Polen nach Deutschland.

Wer nicht sagen kann, wie es ihm geht, kann es vielleicht malen, dachte sich die Kunstpädagogin. Als die Mädchen und Jungen ein Bild malen sollten, malte Lev als Einziger nur in Grautönen. Seine Zeichnung zeigt einen tunnelartigen Gang, aus dem eine Treppe ans Licht führt. Am Ausgang steht „Metro Exodus“. Die Zeichnung gleicht den Bildern der überfüllten Metrostationen, die überall in der Ukraine für die Menschen zu Bunkern gegen die russischen Raketenangriffe wurden. Auf der Treppe in Levs Zeichnung steht ein dunkel gekleideter Mann. Er hält eine Waffe in der Hand und hat eine grüne Gasmaske über dem Gesicht. „Ein Held“, sagt Lev. Mehr will er nicht erklären. Höchstens noch, dass das ein Computerspiel ist.

Rückblende: Noch am 23. Februar ist Lev ein Kind, das mit seiner Zwillingsschwester, seinen Eltern, den Großeltern, der 85-jährigen Urgroßmutter und seiner Katze Amadei in einem Haus am Meer lebt. Seine Heimat ist die am Asowschen Meer gelegene Stadt Mariupol. Sie wird nur einen Tag später zu einem der dramatischen Schauplätze des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.

Die Stadt wird von Einheiten der russischen Armee eingekesselt. Das Dramatheater Mariupols wird wenig später traurige Berühmtheit erlangen. Die Menschen in der Stadt suchen auch dort Schutz vor dem russischen Beschuss. Fast alle in Levs Familie haben irgendetwas mit Theater und Kultur zu tun. Auch Lev und seine Familie, so erzählt es seine Großmutter, harren weiter aus in ihrer Heimatstadt.

Wenn auch nicht in diesem Theater, so sind sie doch in anderen Kellern und Bunkern auf der Suche nach Schutz. Am 16. März wird das Theater zum Ziel eines Angriffs. Es gibt viele Tote. Und für Levs Familie gibt es nun kein Halten mehr in Mariupol. Seine Großmutter benennt den 18. März 2022 als den Tag des Abschieds.

Die Katze blieb bei Nachbarn

Levs Katze bleibt bei befreundeten Nachbarn, seine Zwillingsschwester beim Vater, der das Land nicht verlassen darf. Der Krieg stellt Menschen vor Entscheidungen, die für sie in Friedenszeiten unvorstellbar wären. Die Familie teilt sich auf. Auf Wegen, „die zu kompliziert zu erklären sind“, wie seine Großmutter Irina erklärt, gelangt Lev mit ihr, seiner Mutter, dem Großvater, der wie er Lev heißt und Theaterfotograf ist, sowie der Urgroßmutter nach Polen. Dort bleibt seine Mutter, die näher an der Ukraine sein will.

Levs Flucht führt weiter mit den Großeltern und der Urgroßmutter nach Deutschland. Dort wohnen sie zu viert in einem kleinen Raum. Das Familienlaptop hält die Familie virtuell zusammen, die jetzt über drei Länder verstreut ist. Die kindliche Sehnsucht nach dem Helden aus der Metro, der in seiner Zeichnung die Welt vor dem Untergang rettet, ist da vielleicht verständlich.

Levs Bild ist Teil einer Ausstellung mit Zeichnungen von Kindern. Die evangelische Gesellschaft zeigt sie bei einer Vernissage am 24. November im Flattichhaus in Stuttgart-Rot. „Bilder sind stärker als Angst“ ist die Botschaft all dieser Zeichnungen. Anders als Levs Zeichnung sind die übrigen Bilder alle im polnischen Ustron, einer Kurstadt im Süden des Landes, entstanden. Im Mai hat Ewa Grabowska zusammen mit ihren Kollegen Werner Lude und Margarethe Wawrzyniak-Ryu dort einen Kooperationspartner der Evangelischen Gesellschaft besucht. Im Gepäck hatten sie Sachspenden, die sie in Stuttgart gesammelt hatten.

Der Blick ins Innere

440 Jungen und Mädchen sowie ihre Begleiter aus den Regionen Donezk, Charkiw und Odessa sind in Ustron in Kurkliniken und Rehaeinrichtungen untergebracht. Manche kommen aus einem Waisenhaus in Odessa, andere haben schwere geistige und körperliche Einschränkungen. Zum Dank für die Spenden haben auch diese Kinder gezeichnet – und damit in ihr Inneres blicken lassen. Zu sehen sind auf den Bilder Tiere wie die orangefarbene Katze, die sie in ihrer Heimat zurücklassen mussten. Und immer wieder die deutsche und die ukrainische Fahne. Dazu das Wort „Danke“.

Auf einer Zeichnung stehen ein deutsches und ein ukrainisches Kind ganz nah beieinander. Die Augen des ukrainischen Kindes sind geschlossen. Sein Blick geht nach innen. Die Augen seines deutschen Freundes sind geöffnet. An der Schulter berühren sich die beiden. Engelsflügel umrahmen sie. Schmerz, Beschützt-Werden und die Hoffnung auf Linderung der Not sind in dem Bild vereint. „Kinder haben auch Resilienz“, sagt Werner Lude – also eine Kraft, das Schlimme seelisch zu bewältigen. Was Kinder dazu brauchen, seien „Bezugspersonen und Selbstwirksamkeit – die Erfahrung, etwas tun zu können“, weiß Lude, der lange als Traumatherapeut gearbeitet hat.

Auf einem Gefühlsbarometer hat Lev seinen Namen bei „Ich bin glücklich“ eingetragen. Auf Tiktok produziert er kleine Filmchen. Lev heißt schließlich Löwe.