Auf den Straßen geht es oft eng zu – aber jeder hat seine eigene Wahrnehmung. Foto: dpa/Ole Spata

Unser Radprojekt schlägt Wellen. Zahlreiche Reaktionen zeigen, wie unterschiedlich Stadtverkehr wahrgenommen wird. Wer hat Recht?

Stuttgart - Werden Radfahrer in Stuttgart zu eng überholt? Das legen die Daten unseres Projekts „Radort Stuttgart“ nahe, jedenfalls für zahlreiche Strecken im Stadtgebiet.

Wir haben die 100 Freiwilligen, die für unsere Zeitung mit der an der DHBW Stuttgart entwickelten „Kesselbox“ unterwegs waren, um Rückmeldung gebeten – und auf unsere Berichterstattung außerdem zahlreiche Reaktionen von Rad- und Autofahrern sowie Fußgängern bekommen. Sie alle nehmen den Stadtverkehr unterschiedlich wahr. Hier fassen wir die Reaktionen zusammen.

Das sagen die Freiwilligen

Mehr als 100 Freiwillige haben die „Kesselbox“ je eine Woche lang auf ihr Fahrrad geschnallt und sind damit ihre üblichen Wege geradelt. Jedes Mal, wenn ein Auto sie überholt hat, wurde der Überholabstand aufgezeichnet.

„Meistens werde ich vor Verkehrsinseln oder vor einer Engstelle noch schnell viel zu eng überholt“, schreibt Karin Felder. Sie hofft, dass die Aktion hilft, „uns Radfahrern mehr Schutz zu bieten“ – und hat eine interessante Beobachtung gemacht: „Während die Box am Rad montiert war, hatte ich das Gefühl ich werde viel weniger knapp überholt als sonst.“

Kai Visel hat nicht nur mit unserer „Kesselbox“, sondern auch mit dem jüngst ausgezeichneten „Open Bike Sensor“ Überholabstände gemessen. „Wenn genügend Platz ist, halten Autofahrer auch die Abstände ein“, schreibt er aus eigener Erfahrung. Auf schmalen Straßen werde trotzdem überholt, „im Zweifelsfall dann halt ohne ausreichende Abstände“.

Schutzstreifen schützen nicht

Eng überholt werde insbesondere an Strecken mit Schutzstreifen, also einer gestrichelten Linie. Anders als manch ein Autofahrer denken dürfte, ist nicht diese Linie die Grenze zwischen Auto und Radfahrer. Stattdessen müssen auch bei Schutzstreifen anderthalb Meter Abstand gehalten werden. „Die Schutzstreifen suggerieren dem Autofahrer, dass die Straße links von der Linie ihm gehört, und überholen dann erlaubt ist. So dienen sie nicht der Verkehrssicherheit, sondern verursachen das Gegenteil“, schreibt Kai Visel.

Er weist auf einen Umstand hin, der manchen Autofahrer ärgert: Radfahrer müssen etwa einen Meter Abstand zu parkenden Autos halten, um nicht in plötzlich geöffnete Autotüren zu Fahren. Das sei wohl nicht allen Autofahrern bekannt, vermutet Visel: „Hupen, dichtes Auffahren oder Beschimpfungen gibt es immer wieder“.

Zumindest die Überholvorgänge können mit der „Kesselbox“ und dem „Open Bike Sensor“ exakt gemessen werden – wenn nicht gerade sehr wenig los ist auf der Straße. So war es bei Brigitte Bohlinger. „Vielleicht lag es an der Urlaubszeit?“, vermutet die Radfahrerin. „Aber solche Daten sind für alle wichtig und ich würde jederzeit nochmals an solch einem Test teilnehmen.“ Michael Hubel findet, dass mit der Aktion „eine realistische Datenbasis geschaffen“ wurde. Er vermutet, dass das „Diskussionen versachlicht“. Dann hätte unsere Aktion jedenfalls ihr wichtigstes Ziel erreicht!

Das sagen die Autofahrer

„Bei der Topografie unserer schönen Stadt wird leider das Radfahren innerhalb des Stadtgebietes immer eine gefährliche Handlung sein und bleiben“, schreibt Heino Steinicke. Die Sicherheit könne allerdings „immens erhöht werden, wenn die Radfahrerverbände mehr darauf plädieren würden, dass man ein Rad nur mit Helm und heller, auffallender Kleidung besteigt“.

Im Rahmen unserer Radserie haben uns immer wieder Rückmeldungen von Autofahrern erreicht. Einige beobachten regelmäßig Radfahrer, die etwa rote Ampeln überfahren – dabei gelten die Verkehrsregeln für alle Teilnehmer. Die Reaktionen haben wir hier zusammengetragen.

Das sagen die Fußgänger

Immer wieder haben wir während unserer Radserie Nachrichten von Fußgängern erhalten. Hans Martin Wörner aus Stuttgart erkennt die Probleme von Radfahrern im Konflikt mit dem Auto an. Daneben „entstehen jedoch viel mehr Konflikte zwischen rücksichtslosen, testosterongesteuerten Spaßradlern und den noch schwächeren Verkehrsteilnehmern, den Fußgängern“, schreibt er. Fußgänger könnten sich das „oft schwer verständliche Verhalten von Radfahrern nicht erklären“ und kämen bei der Verkehrspolitik sozusagen unter die Räder.

Auch die Sicherheit von Fußgängern, fordern Wörner und zahlreiche andere Leserbriefschreiber, solle einmal ermittelt werden, zum Beispiel mittels Sensoren. Er verweist auf nicht beachtete rote Ampeln sowie zu eng und zu schnell überholte Fußgänger. Auch Cornelia Müller ärgert sich, dass die Belange der Fußgänger zu wenig Beachtung finden. „Wie wäre es mal mit zwei Din-A3-Seiten Abstand für Fußgänger, die zu eng und unverhofft von schnell fahrenden Radlern, überholt werden?“, fragt sie und beklagt „ständige Berichte für Radfahrer“.

Wie eng überholen Radfahrer?

Helmut Junginger weist auf einen weiteren Aspekt hin: Wie eng überholen Radfahrer Autos? Der 1,5-Meter-Abstand werde selten eingehalten, etwa an Ampeln. „Vermehrt ist auch festzustellen, dass in 30er Zonen PKW von Radfahrern überholt werden. Abstand: Fehlanzeige.“ Ein weiterer Leser legt nahe, „dass die Ultraschallsensoren mal auf der rechten Seite den Abstand der Testfahrer messen“, etwa zu Fußgängern.

Torsten Koritke empfiehlt, morgens gegen 6:30 Uhr auf der Königstraße oder am Höhenpark Killesberg „das Schauspiel der rasenden, rücksichtslosen Radfahrerinnen und Radfahrer zu beobachten. Mittlerweile auch immer mehr schwer gepanzerte Lastenräder“, schreibt er. Auch seien etliche ohne Licht unterwegs: „Regelmäßig spielen viele dieser Menschen morgens und abends mit ihrem Leben.“

Das sagen andere Radfahrer

„Es gibt einfach zu wenig Platz, und weil es bergauf geht ist man mit dem Rad langsam“, schreibt ein Teilnehmer, „da fährt kein Autofahrer hinterher“. Er möchte seinen Namen nicht in der Zeitung lesen, pendelt aber seit zwanzig Jahren von den Fildern in die Stadt und zurück. Passiert sei noch nie etwas, wenn einer zu eng überholt. „Aber es geht ja nicht nur um Unfälle, sondern auch um das Gefühl, sicher unterwegs zu sein oder ständig in Alarmbereitschaft fahren zu müssen, ob auch keiner am Lenker hängenbleibt.“ Sein Vorschlag: „Geschwindigkeit reduzieren bedeutet weniger Platzbedarf. Wo man keine PKW-Fahrstreifen oder Parkstreifen für Radfahrer umwidmen kann, ist das ein schnell umsetzbares und wirksames Mittel. Man muss es halt auch durchsetzen wollen.“

„Verbotsschilder werden am Problem nichts ändern“, glaubt Lukas Klingel, „die Infrastruktur muss verbessert werden“. Radfahrvertreter erklären dann häufig, dass der Radweg von der Straße baulich abgetrennt werden muss. Das findet auch Norbert Rawas: „Sobald es einen nur durch Farbe abgetrennten Fahrradbereich auf der Straße gibt, achten die Autofahrer nur auf die Farbmarkierung und kommen einem gefährlich nahe.“

Unterwegs mit Kind – schwierig

„Die Fahrt auf der Daimlerstraße ist morgens wie nachmittags kein Vergnügen“, schreibt Simon Schreck. Er fährt dort jeden Morgen mit seiner Tochter auf dem Weg zur Kita. Was er erlebt? „Abgestellte Fahrzeuge auf der Fahrradspur, Autotüren die mit Schwung und ohne Rücksicht geöffnet werden und Fahrzeugführer die ihren Frust gerne an ‚schwächeren’ Verkehrsteilnehmer auslassen.“

Die Daten aus unserem Projekt bestätigten seine Erfahrungen. Leider ändere es wenig, dass er mit Kind unterwegs ist – „in 75% der Fälle werde ich trotzdem mit zu geringen Abstand überholt. Bei jeder Fahrt ist mindestens ein Verkehrsteilnehmer dabei, bei dem ich das Fahrzeug mit ausgestrecktem Arm berühren könnte“, schildert Schreck.