Präsident Erdogan weiß die Justiz auf seiner Seite. Foto: dpa/Christoph Soeder

Die türkische Opposition muss sich auf einen Gegenkandidaten einigen. Doch der könnte noch vor der Wahl im kommenden Jahr inhaftiert werden.

„An die Macht, an die Macht“, skandierten die Zuhörer, als der türkische Oppositionschef Kemal Kilicdaroglu neulich sein Wahlprogramm vorstellte. Die Türkei wählt im ersten Halbjahr 2023 das Parlament und den Präsidenten neu – doch ob die Opposition eine Chance hat, die Mehrheit zu erobern und Recep Tayyip Erdogan als Staatspräsidenten abzulösen, ist noch völlig offen. Nicht einmal der Termin der Wahl steht bisher fest. Doch Erdogan hat schon einmal damit angefangen, aussichtsreiche Bewerber aus dem Rennen zu schubsen – wie mit der Verurteilung des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu durch die regierungstreue Justiz. Verfahren gegen andere potenzielle Bewerber sind möglich. Die Opposition sucht deshalb nach einer neuen Strategie.

Turnusgemäß müssten die Wahlen zu Parlament und Präsidentenamt am 18. Juni stattfinden, doch Erdogans AKP will sie vorziehen. Nach Presseberichten erwägt die Regierungspartei den 30. April als Wahltag; am 14. Mai könnte dann, falls nötig, die Stichwahl ums Präsidentenamt stattfinden. Ob wirklich an diesen Tagen gewählt wird, ist ungewiss, denn die AKP braucht im Parlament die Stimmen der Opposition, um die Wahlen vorzuziehen. Erdogan könnte auch das Parlament auflösen.

Istanbuls Bürgermeister als Gegner ausgemacht

Wer bei der Präsidentenwahl gegen den Staatschef antritt, ist noch nicht geklärt. Die Entscheidung soll in einem Bündnis von sechs Oppositionsparteien fallen, das von Kemal Kilicdaroglus Partei CHP angeführt wird. Ob dieses Koalition ihn aber nominiert oder einen anderen Kandidaten aufstellt, etwa Ekrem Imamoglu oder den Bürgermeister von Ankara, Mansur Yavas, will das Bündnis erst bekannt geben, wenn der Wahltermin steht. Imamoglu war 2019 von Erdogan-Gegnern bejubelt worden, als er die AKP bei der Kommunalwahl in Istanbul besiegte. Seitdem ist sein Stern zwar wieder gesunken, doch Erdogan betrachtet ihn offenbar immer noch als gefährlichen Gegner. Der Präsident und andere Regierungspolitiker versichern mit Unschuldsmiene, sie hätten nichts mit dem Urteil gegen Imamoglu zu tun, der am vergangenen Mittwoch wegen angeblicher Beleidigung der Wahlkommission zu zweieinhalb Jahren Haft mit Politikverbot verurteilt wurde. Doch Erdogans Rechtsberater Mehmet Ucum ließ in einer Stellungnahme erkennen, wie sehr das Präsidialamt im Fall Imamoglu auf die regierungstreue Justiz setzt: Das Urteil gegen Imamoglu werde im Berufungsverfahren bestätigt werden, sagte Ucum voraus. In diesem Fall darf Istanbuls Bürgermeister nicht Präsident werden. Imamoglu zum Kandidaten zu machen, wäre für die Opposition also ein Risiko, obwohl er als Präsidentschaftsbewerber er von der verbreiteten Kritik an seiner Verurteilung profitieren und als Opfer des Erdogan-Regimes über die Marktplätze ziehen könnte. Nach einer neuen Umfrage sehen drei von vier Türken das Urteil gegen ihn als politisches Manöver der Regierung.

Der Oppositionsführer hat kein Charisma

Sollte Imamoglu gestoppt werden, könnte Hauptstadt-Bürgermeister Yavas einspringen, der wie Imamoglu laut Umfragen im Direktvergleich mit Erdogan gute Siegchancen hätte. Eine Rolle spielt aber auch, ob sich CHP-Chef Kilicdaroglu von seinen eigenen Ambitionen auf das Präsidentenamt verabschiedet, um Imamoglu oder Yavas den Vortritt zu lassen. Kilicdaroglu neigt zu politischen Fehltritten und hat kein Charisma – in den Umfragen kommt er von allen möglichen Oppositionskandidaten am schlechtesten weg.

In den Umfragen liefern sich die Oppositionsallianz und das Regierungsbündnis aus AKP und der Nationalistenpartei MHP aktuell ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Trotz galoppierender Inflation, dem Verfall der türkischen Lira und sinkender Lebensstandards: Die Wähler trauen der Opposition nicht unbedingt zu, es besser zu machen, sagen die Demoskopen.