Tuğba Tekkal hat bis 2018 in der Bundesliga gespielt. Heute trainiert sie fußballbegeisterte Mädchen. Foto: dpa/Federico Gambarini

Ex-Bundesliga-Spielerin, Trainerin, Aktivistin: Tuğba Tekkal spricht im Interview über die umstrittene WM in Katar, Geld, Macht, Korruption und die Sehnsucht nach dem Spiel, das für Teilhabe und Zusammenhalt steht.

Neun Jahre hat Tuğba Tekkal in der Frauen-Bundesliga gespielt und ihre Karriere 2018 beendet. Dem Fußballsport ist die 36-Jährige weiter sehr verbunden. Sie trainiert und fördert fußballbegeisterte Mädchen, hat sich darüber hinaus als engagierte Menschenrechtsaktivistin einen Namen gemacht. Der nahenden Weltmeisterschaft der Männer in Katar steht Tuğba Tekkal sehr kritisch gegenüber. Sie betont: Es ist unsere Pflicht, auf das bestehende Unrecht im Gastgeberland hinzuweisen.

Frau Tekkal, demnächst beginnt die WM in Katar. Viele sprechen von der bislang umstrittensten. Sie auch?

Es ist offensichtlich, dass diese WM umstritten ist. Und das zurecht. Von der Vergabe bis hin zu dem Turnier gibt es unzählige Fälle von Korruption und Machtinteressen. Allen muss klar sein: Dieses Turnier hat Menschenleben gekostet. Und das widerspricht meinem Konzept von Fußball – Fußball darf sich nicht alles erlauben.

Was zeichnet Ihren Fußball aus?

Ich bin in einer kurdisch-jesidischen Familie aufgewachsen, als Minderheit in der Minderheit. Als Mädchen, dem von allen Seiten gesagt wurde: Du darfst nicht Fußball spielen. Fußball ist für mich Freiheit und Selbstbestimmung. Ohne diesen Sport wäre ich nicht die, die ich heute bin. Deshalb habe ich das Projekt „Scoring Girls“ gegründet – um allen Mädchen den Zugang zum Fußball zu ermöglichen. Mädchen mit und ohne Zuwanderungsgeschichte. Fußball bedeutet Zusammenhalt und Teilhabe. Und diese Kraft des Fußballs steht für mich in einem großen Widerspruch zur WM in Katar.

Was werden Sie tun, wenn ab dem 20. November der Ball rollt?

Ich merke: Die Lust auf diese WM setzt bei mir nicht ein. Normalerweise freue ich mich auf Sportereignisse, schaue mir den Kader der Mannschaften an, wette mit meinen Freunden, wer Weltmeister wird. Aber das kommt mir in diesem Jahr falsch vor – ich denke an die menschenunwürdigen Unterkünfte der Gastarbeiter in Katar, an die Sicherheit queerer Menschen. Ich kann diese WM nicht verfolgen und ich möchte dieses System nicht unterstützen.

Die Dänen werden bei der WM ganz in Schwarz spielen, um auf die Menschenrechtslage in Katar aufmerksam zu machen. Die australischen Spieler haben ein öffentliches Statement abgeben. Reicht das aus?

Öffentliche Statements sind wichtig, ein zentraler Bestandteil der internationalen Kritik. Ehrlich gesagt erwarte ich das von allen Spielern, Verbänden und Sportfunktionären: sich zu positionieren. Es spricht für sich, dass bisher nur zwei Nationalteams öffentlich Stellung genommen haben. Dass so viele schweigen. Aufseiten der Fans gibt es viele Statements: Kneipen, die die Spiele nicht zeigen, Banner gegen die WM in der Bundesliga. Aber es ist ein anderer Druck, wenn sich die direkt Beteiligten äußern. Wir sind spät dran – viel zu spät. Aber das heißt nicht, dass wir jetzt schweigen dürfen.

Welches Bild gibt diesbezüglich der Deutsche Fußball-Bund ab?

Der DFB hat sich öffentlich nicht ausreichend positioniert. Als Fußballverband bleibt er stumm. Und das ärgert mich. Dass die Vergabe so toleriert wird. Dass der DFB keinen konsequenten Umgang damit gefunden hat.

Sie spielen auf die Vergabe der WM im Jahr 2010 an.

Ja. Natürlich hätte die WM nie an Katar vergeben werden dürfen.

Was lehrt uns diese Vergabe?

Dass der Fußball sich nicht alles erlauben darf. Dass wir Reformen innerhalb der Fifa brauchen, ernst gemeinte und konsequente. Dass Entscheidungsprozesse transparent gemacht werden müssen – und dass bei Vergaben klar ist: Menschenrechte haben Priorität. Da gibt es keine Kompromisse.

Hätte die Fifa den Iran, dessen Regime derzeit die Protestwelle und Freiheitsbewegung so brutal bekämpft, vom Turnier ausschließen müssen?

Die Fifa sollte politische Verhältnisse mit einbeziehen, bei dieser WM vor allem die Lage in Katar. Wir dürfen nicht vergessen: In dem Moment, in dem wir weitermachen als wäre nichts passiert, schauen wir weg. Es ist richtig, dass Russland disqualifiziert worden ist. Im Iran lehnt sich die Bevölkerung gegen das Regime auf, treibt die Revolution weiter voran. Eine historische Revolution, die auch vor dem Fußball nicht Halt macht. Fußballer positionieren sich öffentlich gegen das Regime und sind Teil der Bewegung. Sie vom Turnier auszuschließen, wäre das falsche Signal.

Kürzlich hat der DFB die so genannte „One-Love“-Kapitänsbinde vorgestellt, die Manuel Neuer während der WM trägt. Was halten Sie davon?

Das ist ein Protest mit angezogener Handbremse. Klar, kulturelle Sensibilität ist wichtig. Aber wir sprechen davon, dass ein Land Fußballfans aus aller Welt einlädt – und dass Meinungsfreiheit und universelle Menschenrechte nicht verhandelbar sind. Regenbogenfarben daran anzupassen, dass man niemandem in Katar auf die Füße tritt – das ist falsch.

Nun schaut die Welt auf Katar. Werden sich die Bedingungen für Frauen, Homosexuelle, Arbeitsmigranten nachhaltig verbessern?

NGOs wie Amnesty International betonen immer wieder, dass Reformen nicht konsequent genug durchgesetzt werden. Wir wissen alle, warum diese WM nach Katar gegangen ist, wir wissen alle von der Korruption im Fußball. Und die Rechte von Minderheiten haben dabei ganz hintenan gestanden. Eine nachhaltige Verbesserung braucht ernst gemeinte Strukturen und Anstrengungen. Und ich bezweifle, dass es das nach dieser WM geben wird.

Sie setzen sich seit Jahren für Gleichberechtigung, Teilnahme und Fußball spielende Mädchen mit Migrationshintergrund ein. Wie frustrierend ist es für Sie, dass die Männer-WM in Katar mit seiner patriarchalen Gesellschaft stattfindet?

Katar ist nicht eine homogene Stimme. Viele, vor allem junge Menschen in Katar wollen sich in ihrem Land für Reformen einsetzen. Wir müssen aufpassen, dass wir von hier aus nicht nur mit dem Finger auf Katar zeigen, sondern auch internationale Abhängigkeiten und Verflechtungen berücksichtigen. Es sind immer die Minderheiten, die unter patriarchalen Gesellschaften leiden, das sehen wir überall.

Was sagen denn die Mädchen, die Sie trainieren, zur WM?

Die Mädchen sind aus Ländern geflohen, die Menschenrechte missachten. Die wissen, wie viel Schmerz das bringt, und wie es sich anfühlt, vom Rest der Welt vergessen zu werden. Diese Mädchen fragen mich: Wie kann es sein, dass für Fußball Menschen sterben?

Und was antworten Sie?

Ich habe keine Antwort darauf. Was soll ich ihnen antworten?