Eine Bühne für Diversität: beim Theaterpreis Tony war unter anderem Michael R. Jackson mit einem Musical erfolgreich. Foto: AFP/Angela Weiss

Bei den Tonys, der Theatervariante der Oscars, gab es am Sonntag Überraschungen. Berühmte Favoriten gingen leer aus, schwarze Künstler kamen zum Zug.

Die am Sonntagabend verliehenen Tony Awards, der wichtigste Theaterpreis der USA, werden gern mit Hollywoods Oscars verglichen. Ein paar Bühnenverzückte knurren dann regelmäßig, weil sie die Tonys für viel seriöser halten möchten. Aber die aktuelle Preisvergabe hat gezeigt, dass die Tonys wie die Oscars Indikatoren für Stimmungen, Trends, Debatten und Weltbildwandel sein können. Die großen Ehrungen holten im Jahr 2022 Künstler und Produktionen, die früher möglicherweise und zu Unrecht am Katzentisch gelandet wären.

Als bestes neues Musical des Jahres am New Yorker Broadway wurde „A Strange Loop“ des afroamerikanischen Autors Michael R. Jackson ausgerufen, der prompt auch den Tony für das beste Buch erhielt. Jackson erzählt von einem schwulen schwarzen Platzanweiser, der von seinem eigenen Musical träumt. Der nicht mit dem Sänger verwandte Autor gewann für „A Strange Loop“ auch den Preis für das beste Buch.

Rettungsfloß fürs schwule Leben

Fast zwei Jahrzehnte lang hat der heute 41-jährige Jackson mit dem Stoff gerungen, von der ersten Idee bis zur Umsetzung, die Kritiker ins Schwärmen brachte. „Ich habe das Stück zu einer Zeit geschrieben, als ich nicht wusste, wo mein Leben hin sollte“, beschreibt er die reale Krise hinter dem Musical. „Ich wusste nicht, wie ich vom Fleck kommen sollte. Ich fühlte mich übersehen. Ich fühlte mich überhört. Ich fühlte mich missverstanden. Also wollte ich mir wenigstens ein kleines Rettungsfloß für meine Existenz als schwuler schwarzer Mann schaffen.“

Dass nun in der Kurzfassung „Michael Jackson hat’s“ getwittert werden konnte, ist sehr ironisch, denn „A Strange Loop“ hat auch einen berühmteren Michael Jackson ausgestochen. Einer der großen Favoriten für den Titel des besten neuen Musicals war „MJ“ über den gestürzten Popkönig, dem man als Jukebox-Musical mit vielen Originalhits auch bei den Tonys viel Nostalgie-Wucht zugetraut hatte.

Billy Crystal abgeschlagen

Immerhin brachte das insgesamt erfolgreiche „MJ“ (beste Choreografie, bestes Lichtdesign, bestes Sounddesign) einem weiteren Newcomer einen zentralen Preis: Der 22-jährige Myles Frost wurde als bester Hauptdarsteller in einem Musical ausgezeichnet. Er schlug damit sowohl Hugh Jackman im Broadway-Klassiker „The Music Man“ als auch Billy Crystal in „Mr. Saturday Night“ aus dem Feld.

Der Komiker Crystal hat hier seinen ersten selbst inszenierten Film aus dem Jahr 1992 über die Comeback-Versuche eines längst abgemeldeten Komikers zum Musical umgemodelt. Aber Hollywood kam nicht ganz nach vorne an einem Tony-Abend, an dem die Rückkehr der Bühnen aus der Pandemiepause gefeiert werden sollte – und die Juroren vielleicht ganz besonders Unverwechselbarkeit und Eigenständigkeit des Live-Theaters betonen wollten.

Zeichen für Diversität

Dass Joaquina Kalukango in „Paradise Square“ über Iren und Schwarze im New York zu Zeiten des US-Bürgerkriegs zur besten weiblichen Musical-Hauptdarstellerin gewählt wurde, sandte noch ein anderes Signal. Auch die Tonys wurden ja zuletzt scharf als viel zu weißer Preis angegriffen, als Teil einer Ausgrenzungsmaschinerie in Kunst und Gesellschaft. Nun haben die Wahlberechtigten – rund 900 Mitglieder aus diversen Branchenverbänden – gleich drei schwarze Künstlerinnen und Künstler ausgezeichnet.

Die etablierte weiße und eben auch mit Hollywood-Ehren versehene Kreativenelite kam allerdings auch zu ihrem Recht, am schönsten bei einem Stück, das die weiße wie die globalisierte Finanzelite am Werk zeigt. Die Finanzkrisen-Untersuchung „The Lehman Trilogy“ über den Untergang einer Bank im Strudel der Gier erhielt den Tony als bestes Drama, Simon Russell Beale wurde mit „The Lehmann Trilogy“ bester Hauptdarsteller und Sam Mendes wurde bester Regisseur. Der Brite Mendes hat eine lange Bühnenkarriere hinter sich, ist aber auch im Filmgeschäft eine Macht: „American Beauty“, „Road to Perdition“, dann Bond-Filme mit Daniel Craig – der Mann passt wirklich in keine Schublade.

Preise und Sorgen

Weitere Tonys in Kürze:   Beste Hauptdarstellerin Deirdre O’Connell in „Dana H.“ Bestes Musical-Revival: das insgesamt mit fünf Preisen bedachte „Company“, die letzte Produktion des im November 2021 verstorbenen Stephen Sondheim. Beste Musical-Nebendarstellerin: Patti LuPone, ihr dritter Tony.

Bestes wiederaufgelegtes Theaterstück: „Take Me Out“ von Richard Greenberg über Homosexuelle im Baseball. Bester Nebendarsteller in einem Theaterstück: Jesse Tyler Ferguson, bekannt aus der Fernsehserie „Modern Family“, eben in „Take Me Out“ . Beste Theater-Nebendarstellerin: Phylicia Rashad in „Skeleton Crew“. Wem der Name nichts sagt: man kennt sie weltweit als Mutter Clair Huxtable in der „Bill Cosby Show“.

Trotz Glanz und Schmiss und Zuversicht der vom Sender CBS übertragenen Tony-Show aber ist die Stimmung im amerikanischen Theater jenseits der Selbstermutigungssprüche noch eher abwartend. In der Saison 2021/22 wurden am New Yorker Broadway 6,7 Millionen Karten verkauft, 845 Millionen Dollar kamen in die Kasse. 2018/19 waren es noch 14,8 Millionen Besucher und 1,8 Milliarden Dollar.