Wiedersehen mit den Helden der Kindheit: in der Augsburger Puppenkiste steckt ein Stück deutscher Mentalitätsgeschichte. Mehr zu dem Theater und dem Autor Thomas Hettche finden Sie in unserer Bildergalerie. Foto: Augsburger Puppenkiste

Ein Märchenspiel zwischen Himmel und Hölle: Thomas Hettche erzählt in seinem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman „Herzfaden“ die Geschichte der Augsburger Puppenkiste.

Stuttgart - Ach, wie hübsch! Ein Roman mit Zeichnungen, zweifarbigem Textbild und einem volkstümlichen Erzählton. Da fühlt man sich als Erwachsener plötzlich wieder ganz klein und erinnert sich wehmütig an goldene Fernsehzeiten, in denen die Augsburger Puppenkiste die Fantasiewelten der Kindheit an unsichtbaren Fäden zum Leben erweckt hat. Es beginnt mit einem Mädchen, das aus sehr heutigen Familienwirren durch eine geheimnisvolle Tür in der dunklen Hinterbühne von Deutschlands beliebtestem Marionettentheater verschwindet. Die digitale Wunderbox des Smartphones dient nur noch als Taschenlampe.

In Puppenformat geschrumpft begegnet es den holzgeschnitzten Helden aus den frühen Tagen der Bundesrepublik, dem kleinen Prinzen, der chinesischen Prinzessinnen Li Si, Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer, Urmel und Kalle Wirsch, König der Erdmännchen. Von der Schöpferin des Puppenreichs, Hannelore Oehmichen, lässt sich das Mädchen die Geschichte des liebenswerten Wunderreichs erzählen, das Generationen von Zuschauern entrückt hat. Ach, wie hübsch!

Eine der ersten Figuren ist der Tod

Doch Vorsicht, wenn ein Autor wie Thomas Hettche einfach schreibt, wird es erst recht vertrackt. „Herzfaden“ hat er seinen gerade für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman über die Augsburger Puppenkiste überschrieben. Es sei der wichtigste Faden einer Marionette, erklärt der Vater der jungen Hannelore, genannt Hatü, der Herzfaden einer Marionette mache uns glauben, sie sei lebendig, denn er sei am Herzen der Zuschauer festgemacht. Der Herzfaden aber, an dem der Autor jenes Mädchen und mit ihm den Leser durch das Geschehen führt, reicht in eine Vergangenheit zurück, gegen deren unerbittlichen Zugriff man sich später hinter einem Wall zeitloser Märchenfantasien zu bergen suchte.

Denn die Anfänge des Marionettentheaters fallen in eine Zeit, in der ein mörderischer Puppenspieler samt seinem hörigen Gefolge die Welt in ein Leichenhaus verwandelt hat. In der Schule fehlt plötzlich die jüdische Freundin, die Hochöfen im Augsburger MAN-Werk glühen, um mit fauchend heißem Stahl die Herzstücke deutscher U-Boote zu gießen: vor ihrem inneren Auge sieht die junge Hatü Tote im Wasser treiben, „in diesem eiskalten Wasser, ihre Haut weiß wie Milch, mit ausgebreiteten Armen und kopfunter, Marionetten an den Fäden des Meeres.“ Durch die Straßen bewegen sich durch Prothesen wieder gelenkig gemachte Menschen, die freundliche Frau Friedmann wohnt nicht mehr in ihrer Villa, sondern in einem „Judenhaus“, bis auch sie verschwindet. Eine der ersten Figuren, die der Vater schnitzt, ist der Tod. Und irgendwann versinkt die ganze Stadt im Bombenhagel.

An der Front erlebt Hatüs Vater, Walter Oehmichen, der Gründer des Ganzen, wie man mit selbstgemachten Figuren Menschen, die Grauenvolles erlebt haben, ablenken kann, ein Effekt, den sich schon das Reichsinstitut für Puppenspiel mit einem Standard-Puppensatz für die Wehrmacht zunutze gemacht hat. Aus dem Wunsch, alles, was geschehen war, zum Verschwinden zu bringen, entsteht nach dem Krieg die Augsburger Puppenkiste. Aus alten Hakenkreuzfahnen werden die Vorhänge geschneidert.

Schönheit und Schrecken

Keiner besitzt für die Unterhandlungen von Schönheit und Schrecken ein feineres Ohr als Thomas Hettche, der mit seinem Roman „Pfaueninsel“ schon einmal an die Gestade geführt hat, wo sich die Wellen der Einbildungskraft an der Wirklichkeit brechen. Sind Marionetten die besseren Menschen? Sie haben zumindest den Vorteil, nicht dem niederziehenden Gesetz der Schwerkraft zu unterliegen. Hierauf basiert ihre Grazie, wie Kleist in seinem berühmten „Marionettentheater“-Essay festgehalten hat: „weil die Kraft, die sie in die Lüfte erhebt, größer ist als jene, die sie an die Erde fesselt.“

Kleist handelt vom Verlust der Unschuld durch das reflektierende Bewusstsein, über den sich die Marionetten im völligen Einklang mit sich und der Welt graziös hinwegsetzen. Hettche erzählt im heiter-unheimlichen Volkston vom Versuch, der schuldhaften Verstrickung durch Figurenspiel zu entkommen. „Wir müssen die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben wurden“, sagt Hatüs Vater, kein Nazi, während des Krieges jedoch Landesleiter der Reichstheaterkammer, „und die Fäden, mit denen wir sie wieder an Kultur anknüpfen, das sind die Fäden meiner Marionetten.“

Fluch einer bösen Märchen-Fee

Es ist der Versuch der Zerstörung etwas entgegenzusetzen. Neue Erzählungen und Wesen, die frei über der verbrannten Erde der Geschichte schweben. In der Herzenspoesie Antoine de Saint Exupérys und den Büchern Michael Endes finden sie Anknüpfungspunkte, im gerade entstehenden Fernsehen das Medium zu ihrer Verbreitung.

Doch wie der Fluch einer bösen Märchen-Fee verfolgt Hatü der Hitler-Satz: „Und sie werden nicht mehr frei sein, ihr ganzes Leben.“ Das Unheimliche bleibt den Figuren einbeschrieben, und immer wieder kommt es zu unerwarteten Überblendungen, getreu der Maxime des einarmigen Bildschnitzers, der Hatü das Handwerk lehrt: „Die Vergangenheit ist Gegenwart, die Gegenwart ist Vergangenheit.“ Besonders der von ihr selbstgeschnitzte Kasperl erfüllt die spätere Prinzipalin mit einem geheimen Grauen, dessen Ursache sie erst später zutiefst beschämt erkennt: unbewusst hat sie ihm die Züge einer Juden-Karikatur eingearbeitet.

„Das Paradies ist verriegelt, wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist“, heißt es bei Kleist über den Sündenfall der Erkenntnis. Thomas Hettche führt ein Mädchen auf die Hinterbühne der kollektiven Erinnerung, wo es erfährt, wie Himmel und Hölle zusammenhängen. Es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn diese eindrucksvolle Erkundung nicht mit dem Deutschen Buchpreis prämiert würde.

Künstliche Idyllen und Abgründe Der Wirklichkeit

Autor Thomas Hettche, 1964 im hessischen Treis geboren, erregte schon mit seinem Debüt „Ludwig muss sterben“ von 1989 Aufsehen. „Der Fall Arbogast“ über einen beunruhigenden authentischen Kriminalfall wurde in 13 Sprachen übersetzt, zahlreiche Preise erhielt sein Bestseller „Pfaueninsel“, der die Geschichte einer Kleinwüchsigen in den künstlichen Gartenwelten im Preußen des 19. Jahrhunderts erzählt.

Theater Die Augsburger Puppenkiste ist untergebracht im Heilig-Geist-Spital in Augsburg und führt seit 1948 Märchen und ernste Schauspiele auf. Mit ihren Fernsehproduktionen, zum Beispiel Jim Knopf und Urmel, erlangte die Puppenkiste seit 1953 bundesweite Bekanntheit.

Roman Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste. Verlag Kiepenheuer & Witsch. 286 Seiten, 24 Euro.

Termin Am 26. Oktober stellt Thomas Hettche seinen Roman im Literaturhaus Stuttgart vor.