Oskar-Darsteller Bernhard Linke. Foto: factum/Simon Granville

Immer wieder werden im Theater Werke der Weltliteratur verwurstet. Dass das auch gut gehen kann, beweist Peter Kratz beim diesjährigen Sommertheater in Ludwigsburg.

Ludwigsburg - Wer weiß schon, unter welchen Umständen die eigenen Eltern gezeugt wurden? - Oskar, ein Dreikäsehoch von gerade einmal 94 Zentimetern, kann im Nu das Bild seiner Großmutter vor den Augen erstehen lassen, die im „Jahr Neunundneunzig“ auf einem Kartoffelacker der Kaschubei saß, „während in Südafrika Ohm Krüger seine buschig englandfeindlichen Augenbrauen bürstete“. Unter ihre vier Röcke lässt sie damals den flüchtigen Brandstifter Joseph Koljaiczek schlüpfen, der ihr im sicheren Versteck vor der Polizei ein Kind schenkt. Das Produkt dieser Verbindung namens Agnes wird später Frau des Alfred Matzerath, Geliebte des Jan Bronski und Mutter des ewigen Knirpses Oskar, der mit drei Jahren beschließt, das eigene Wachstum einzustellen.

Die ganze Geschichte um Familie Matzerath in der ersten bewegten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit seinen Kriegen und Verwerfungen hat der Literat Günther Grass im 1959 erschienenen Opus Magnum „Die Blechtrommel“beschrieben. Über siebenhundert Seiten umfasst der bitter-lustige, von Typen, Anekdoten, Schauplätzen und historisch bedeutsamen Szenen pralle Schelmen- und Entwicklungsroman. Wer diese schiere Fülle auf die Bühne bringen will, muss mutig sein.

Das ganze Stück kommt in 80 Minuten über die Bühne

Peter Kratz, Intendant des Theatersommers in Ludwigsburg, hat sich an den Text herangetraut und ihn mit dem Oskar-Darsteller Bernhard Linke sowie der singenden und spielenden Multi-Instrumentalistin Josephine Tancke auf die weißgetünchten Bühnenbretter im Cluss-Garten gewuchtet.

Kratz hatte Glück, dass ihm der Theatermacher Oliver Reese zuvor gekommen war und das Werk auf eine zweistündige Bühnenfassung für einen Spieler eingedampft hat. So funktioniert der nachträglich auf den Spielplan gehievte, auf 80 Minuten gestraffte Abend erstaunlich gut.

In kurzen Hosen und weißen Kniestrümpfen führt Linke durch das Panoptikum des Grass´schen Kosmos, berichtet, wie er, Oskar, mit drei Jahren die erste Blechtrommel bekommt, mit sechs der Lehrerin Fräulein Spollenhauer die Brillen- und Fensterscheiben zersingt, von der Mutter beim jüdischen Spielzeughändler Sigismund Markus geparkt wird, während sie den Beischlaf mit Onkel Jan vollzieht.

Die Jahre fliegen vorbei, Oskar beobachtet die ersten Aufmärsche der Nazis, mit dabei sein Vater, den er nur Matzerath nennt, er lernt den kleinwüchsigen Zirkus-Direktor Herrn Bebra kennen.

Schwindelerregendes Tempo

Das Tempo der Erzählung ist teils schwindelerregend, Tiefe und Details kann man da nicht erwarten. Flach wird das dennoch nicht, weil diese vom Roman und auch vom Schlöndorff-Film emanzipierte Revue einen eigenen Sog entwickelt. Das liegt wesentlich am zupackenden Spiel von Bernhard Linke, der mit ökonomisch eingesetzter Pantomime und einem Alter Ego aus Pappmaché diesen Gewaltmarsch durch Grass´ Buch in einen kurzweiligen Galopp-Ritt verwandelt.

Ohne das engagierte Mitspiel von Josephine Tancke an Theremin, E-Piano, E-Bass und Perkussion-Instrumenten würde nicht nur der musikalische Kommentar fehlen. Tancke schlüpft mit viel Witz und Spaß am Klischee auch in die Charaktere von Bebra, Maria und dem Fräulein Spollenhauer und bietet Oskar die notwendige Paroli.

Wer wirklich den gesamten Horizont der Blechtrommel erleben möchte, kommt am Buch zwar trotzdem nicht vorbei. Doch einen flotten, unterhaltsamen Abriss bekommt man im Cluss-Garten aber auf jeden Fall.

Termin 16. bis 23. August, außer Montag, 17., täglich um 20 Uhr, Theatersommer, Ludwigsburg, Karten unter www.theatersommer.net oder Telefon 07141/2423155.