Die Angeklagten stehen vor der Urteilsverkündung im Prozess gegen vier mutmaßliche Anhänger der Terrorgruppe Dschabhat al-Nusra im Gerichtssaal. Foto: dpa/Sebastian Gollnow

Der sogenannte Islamische Staat (IS) in Syrien und im Irak ist schon lange besiegt. Und dennoch reiht sich beim Oberlandesgericht in Stuttgart ein Terror-Prozess an den nächsten. Am Montag musste die Kammer über ein besonders blutiges Massaker urteilen.

Stuttgart - Abdul Jawad al-K. muss gewusst haben, was ihn erwartet, als er nach Deutschland kam im Oktober 2014. Das Massaker auf einem Müllplatz nahe der syrischen Stadt Tabka hatte sich unter seinen Landsleuten bereits herumgesprochen. Als Anführer einer Soldatentruppe soll er zusammen mit anderen Anhängern der radikal-islamistischen Terrorgruppe Dschabhat al-Nusra mindestens 19 Anhänger des verhassten Assad-Regimes getötet haben, eiskalt und grausam.

Polizisten gehörten im März 2013 ebenso zu den wehrlosen Opfern wie Verwaltungsbeamte und Milizionäre. In Deutschland gerät al-K. ins Visier der Ermittler - und wird vor Gericht gestellt. Nun hat das Stuttgarter Oberlandesgericht den Syrer zur Höchststrafe verurteilt. Drei ebenfalls angeklagte Cousins und frühere Gleichgesinnte in der Kampftruppe müssen für bis zu achteinhalb Jahre in Haft.

Senat wird nie die ganze Wahrheit erfahren

Dem Vorsitzenden Richter gehen die arabischen Namen der Angeklagten, der Tatorte und der Rebellengruppen mittlerweile ohne Stocken über die Lippen. Seit Mitte 2017 hat sich der Senat von Herbert Anderer mit der Bluttat beschäftigt, er hat Akten gewälzt, Zeugen verhört. Er kennt die unterschiedlichen Kampftruppen, er hat gelernt, wo Tabka liegt und wann Rakka von der Gruppe eingenommen wurde, der auch al-K. angehörte.

Und er hat einsehen müssen, dass auch der Senat nie die ganze Wahrheit erfahren wird: „Blick, Horizont und Verständnis haben sich in den zwei Jahren sehr geweitet“, sagt Anderer bei der Urteilsbegründung, der auch Familienangehörige der Angeklagten beiwohnen. „Aber ein Strafprozess kann nicht mehr sein als eine Annäherung.“ Es sei nur in Teilen deutlich geworden, was wirklich geschehen sei.

Über die Balkanroute nach Deutschland gekommen

Demnach kam Abdul al-K. im Oktober 2014 als einer der Täter im Strom der Opfer und wahrscheinlich über die Balkanroute aus Syrien nach Deutschland. Er landete schließlich in Leimen bei Heidelberg, wo er auch verhaftet wurde. Im Laufe des Krieges soll seine kleine Kampfeinheit, eine sogenannte Katiba, mehrfach die Seiten gewechselt haben. Sie kämpfte mal aufseiten der Freien Syrischen Armee, dann mit der Al-Nusra-Front, damals der syrische Ableger von Al-Kaida.

Ausgerüstet mit Kalaschnikow-Sturmgewehren und später auch mit Handgranaten, Raketenwerfern, Maschinengewehren und Panzerfahrzeugen soll die Brigade unter Al-Nusra-Kommando eine blutige Spur in der Region Rakka hinterlassen haben, darunter auf der Müllkippe bei Tabka. Dort waren mindestens 19 Gefangene aus Rakka durch einen Schariarichter zum Tode verurteilt.

Opfer erschossen, erschlagen und erstochen

Damals sollen die meisten Opfer erschossen worden sein, jeweils in Gruppen von fünf oder sechs Männern, andere erschlagen oder erstochen. Die Leichen wurden verscharrt - so steht es in der Anklage des Generalbundesanwalts. Zwei schon verletzte Gefangene tötete al-K. selbst, bei den anderen 17 sei das nicht sicher, wie Richter Anderer im streng geschützten Gerichtsgebäude am Gefängnis Stammheim ausführt.

Auf die Spur der Männer sollen die Ermittler über Aussagen eines Syrers in einem Gespräch für einen Asylantrag gekommen sein. Die langen Ermittlungen endeten nun vorerst in der Verurteilung al-K.s zu lebenslanger Haft. Ungewöhnlich für einen Terrorprozess: der Senat stellte auch wie von der Bundesanwaltschaft gefordert die besondere Schwere der Schuld fest. Damit ist nicht absehbar, ob und wann der Syrer jemals wieder auf freien Fuß kommt.

Der Fall von Abdul Jawad al-K. und seinen Cousins wiegt schwer. Aber es ist keineswegs der einzige. Beim OLG Stuttgart sind derzeit sind noch 11 Staatsschutzverfahren anhängig. 17 Urteile sind laut OLG seit 2015 in Verfahren rund um den syrischen und irakischen Bürgerkrieg gesprochen worden.

Und es dürften weitere folgen: Nach früheren Erkenntnissen des „Spiegel“ sollen sich neben den in Stuttgart angeklagten Syrern auch mehr als zwei Dutzend identifizierte frühere Mitglieder der Kampfeinheit in Deutschland aufhalten, viele weitere sollen noch nicht identifiziert sein.