Moderatorin Anne Will empfing am Sonntagabend ihre Gäste im Ersten. Foto: imago images/Jürgen Heinrich/Jürgen Heinrich via www.imago-images.de

„Ein halbes Jahr Corona-Krise – geht Deutschland mit der richtigen Strategie in den Herbst?“, fragt Anne Will am Sonntagabend im Ersten ihre Gäste. Die ehemalige Piraten-Politikerin und Netzaktivistin Marina Weisband hat eine Forderung an die Politik – und der Chef der Weltärztekammer hat sich geirrt.

Stuttgart - So kann man sich täuschen. Die Maskenpflicht hatte Frank Montgomery im April noch als „lächerlich“ bezeichnet. Bei Anne Will gab der Vorstandsvorsitzende der Weltärztekammer zu: „Ich habe mich geirrt.“ Er könne doch nicht das Tragen eines feuchten Lappens mit Bußgeld bewehren, habe er damals gesagt. „Inzwischen wissen wir, dass alleine der mechanische Schutz nicht den Träger, aber die anderen schützen kann.“ Das sei das Tolle an dem ganzen Prozess: Die Wissenschaft habe gelernt zu lernen – und Irrtümer zuzugeben.

„Ein halbes Jahr Corona-Krise – geht Deutschland mit der richtigen Strategie in den Herbst?“, das hat Anne Will am Sonntagabend im Ersten neben Montgomery die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD), den Wissenschaftsjournalisten Ranga Yogeshwar, den Virologen Hendrik Streeck und die ehemalige Piraten-Politikerin und Netzaktivistin Marina Weisband gefragt. Eine kontroverse Debatte ergab das nicht, denn im Grunde war man sich einig: Im Moment gilt es vor allem darum zu schauen, dass die bisher Umfragen zufolge recht breite Unterstützung für Maßnahmen wie die Maskenpflicht in der Bevölkerung nicht bröckelt. Montgomery nannte Zahlen. 66 Prozent bewerteten demnach die Maßnahmen als richtig, 18 Prozent wären sogar bereit, weiter gehende Einschränkungen zu akzeptieren.

Streeck: „Der Virus ist Teil unseres Lebens“

Dafür braucht es mehr Mut, meint Streeck: „Keiner weiß, was der beste Weg ist.“ Er fordert, „aus dem Daueralarmismus herauszufinden“ und mehr „trial and error“ zu wagen. Die Absage des für Anfang September geplanten Großkonzerts mit 13 000 Teilnehmern trotz ausgeklügelten Hygienekonzepts hielt er für einen Fehler: „Wenn jemand ein Hygienekonzept hat, sollten wir es ausprobieren und hinterher konsequent testen um zu sehen, was funktioniert.“ Sei das nicht ein Versuch am lebenden Menschen, hakt Anne Will nach. „Was ist die Alternative?“, fragt Streeck. Niemand wisse, wann ein Impfstoff vorliegen werde, das könne noch Jahre dauern. „Das Virus ist Teil unseres Lebens“. Der Bonner Professor wirbt dafür, nicht mehr nur auf die Infektionszahlen zu schauen. Die würden im Herbst und im Winter, wenn die Menschen sich wieder mehr in geschlossenen Räumen aufhalten müssten, ohnehin wieder steigen.

Montgomery wünscht sich deshalb eine klarere Marschroute vom Bund. Er kritisiert die unterschiedlichen Regeln auf den unterschiedlichen föderalen Stufen. Malu Dreyer widerspricht: Auf unterschiedliche Lagen in unterschiedlichen Regionen müsse man eben auch unterschiedlich reagieren. Allerdings müsse man schon deshalb die Infektionszahlen im Blick haben, weil das konsequente Nachverfolgen von Infektionsketten durch die Gesundheitsämter bisher gut funktioniert habe und ein wichtiger Bestandteil dessen sei, dass Deutschland die Pandemie ordentlich bewältigt habe.

Yogeshwar: Wir müssen besser kommunizieren

„Die eigentliche Hürde kommt erst noch“, warnt Ranga Yogeshwar. Damit meint er nicht nur die kalte Jahreszeit, für die auch der Wissenschaftsjournalist wieder mit steigenden Infektionszahlen rechnet. Seine größte Sorge: „Wir haben ein Kommunikationssystem, das sehr spaltet.“ Er verweist auf Studien zu den diversen Internetplattformen, denen zufolge Nachrichten, die falsch seien, mehr Klicks bekommen als faktisch richtige Meldungen. Das bereite Verschwörungstheorien den Boden. „Ich wünschte mir, dass es uns sehr viel besser gelänge, die Menschen vor falschen Wahrheiten zu schützen“, sagt auch Montgomery. Die Frage sei, so Yogeshwar: „Wie kommunizieren wir?“, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu erhalten. Yogeshwar wirbt für erklären, erklären, erklären.

Weisband fordert eine stärkere Beteiligung der Bürger

Marina Weisband wünscht sich einen stärkeren Fokus auf die Dinge, die wirklich wichtig seien: So müsse man dafür sorgen, dass Kitas und Schulen nicht wieder schließen müssten, „Fußball und Feiern kommen zum Schluss“, so die Autorin und Aktivistin, die mittlerweile den Grünen angehört. Damit das gesichert sei, bräuchten die Schulen mehr Personal und mehr Räume, um Unterricht auslagern zu können. Vor allem aber fordert Weisband eine stärkere Beteiligung der Bürger durch so genannte Bürgerräte, die gemeinsam mit Entscheidungsträgern und Virologen und Epidemiologen alle Corona-Maßnahmen besprechen. Viele Menschen hätten aktuell das Gefühl, ihr Leben sei außer Kontrolle geraten – und das, so Marina Weisband, „ist gruselig“.