Stadtdekan Søren Schwesig (hinten) und die Flüchtlingsfamilie aus Odessa Foto: Lg/Max Kovalenko

Der evangelische Stadtdekan Schwesig hat eine vierköpfige Familie aus Odessa in seine Pfarrwohnung aufgenommen. Da er selbst einer Familie mit Fluchterfahrung entstammt, war ihm das ein inneres Bedürfnis.

Am 24. Februar, um 5.03 Uhr, hat es gekracht. Von da an wusste die Familie Kviatkovskyi: „Jetzt ist der Krieg auch in Odessa angekommen.“ Die Kriegsschiffe der Russen haben sich daraufhin zwar wieder zurückgezogen, aber den Kviatkovskyis war klar: Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Die aktuellen Ereignisse an der ukrainischen Küstenstadt sollten der Familie recht geben. Es war richtig, die sieben Sachen zu packen und dem drohenden Bombenhagel zu entfliehen. „Auch die Militärs meinten, ihr helft uns am meisten, wenn ihr geht und wir euch nicht beschützen müssen“, berichtet Großmutter Albina Shtereva (80) zusammen mit den drei weiteren Familienmitgliedern: die Mutter Hanna Kviatkovska (46), Oleksii (18) und Yan Kviatkovskyi (13). Der Vater Vitali (51), ein Bauingenieur, musste wie alle wehrtauglichen Männer in Odessa bleiben.

Vorläufig einen guten Platz gefunden

Und doch haben sie sich aufgemacht zu dieser Reise ins Ungewisse. Zu einer Reise durch acht Länder und neun Grenzen, für die es kein Rückreisedatum gibt. Und wie so oft, wenn einen das Leben über verschlungene Pfade führt, so haben auch die Kviatkovskyis vorläufig einen guten Platz gefunden: Sie sind unter dem Dach von Stadtdekan Søren Schwesig untergekommen. „Wir sind unendlich dankbar“, sagt die Mutter, während der Rest der Familie andächtig nickt. Sie sind dankbar, in dieser komfortablen Wohnung des Pfarrhauses an der Lessingstraße untergekommen zu sein, dankbar, sicher vor den russischen Invasoren zu sein. Denn andere Familienmitglieder, wie etwa die Cousine, die in Mariupol lebt, hätten keine Chance mehr zur Flucht. Sie müssen der Zerstörung und dem Mangel an Medizin oder Lebensmitteln trotzen.

Fügung oder Zufall?

Gemeinhin nennt man solche schicksalhaften Wendungen Zufall. Christenmenschen, wie Schwesig, sehen das freilich anders. Aus seiner Perspektive war es eben eine Fügung, bei der Fotografin von Gospel im Osten, Ludmilla Parsyak, anzurufen und nach Ukrainern zu fragen, die ein Quartier brauchen. „Mensch“, sagt Schwesig, „ich habe gedacht, ich habe so eine große Wohnung. Vielleicht kennt Ludmilla jemanden, der eine Unterkunft sucht.“ Sie kannte die Kviatkovskyis. Und kurz nach dem Telefonat sei alles sehr schnell gegangen. Die vier aus Odessa bilden seitdem mit dem Haushalt von Schwesig eine Gemeinschaft. Sie kochen und essen gemeinsam. Sie haben sich viel zu erzählen.

Für Schwesig war es wie ein inneres Bedürfnis, in der Flüchtlingshilfe persönlich aktiv zu werden. Natürlich ist auch die Institution Kirche sehr aktiv. Seien es die Waldheime, die als Unterkünfte angeboten wurden oder eine Privatquartierkampagne über die Gemeinden. Auch das Mörike nimmt ukrainische Schüler auf. Aber für Schwesig wiederholt sich im Leid der Ukrainer ein Teil seiner eigenen Familiengeschichte. „Der Großvater wurde von der Roten Arme aus Königsberg vertrieben, der Vater musste als Pfarrer aus der DDR fliehen“, erzählt er. Umso so schöner sei es, dass er nun Menschen nach ihrer Flucht vor Gewalt und Krieg helfen könne: „Es ist so wichtig für diese Menschen, etwas Struktur in ihr Leben zu bekommen.“

Stadtdekan als Vorbild

Zunächst hatte Schwesig gezögert, seine Hilfe öffentlich zu machen. Es passt nicht zu seiner Art. Er wirkt lieber im Verborgenen. Erst recht als öffentliche Person. Aber gleichzeitig war ihm klar, seine Hilfe könne ein öffentliches Signal für viele in der Stadtgesellschaft sein: „Alle gesellschaftlichen Gruppen sind jetzt aufgerufen, diesen Menschen zu helfen und deren Not zu lindern.“ Man dürfe diese Aufgabe jetzt nicht alleine der Stadt Stuttgart überlassen: „Wir sind jetzt als Gemeinschaft gefragt.“ Mit dieser Hilfe und gelebten Nächstenliebe verbindet Schwesig sogar noch mehr. Erst zuletzt hatte er gepredigt, „dass wir in einer Zeit der Lüge und der Gewalt leben, die das Schlechteste des Menschen hervorkehrt“. Nun aber stellt er in dieser Krise eine Chance zum Wandel fest: „Denn wenn sich Menschen jetzt von der Not anderer berühren lassen, kann es das Beste im Menschen herauskehren.“

Dieses Gute im Menschen ist jedenfalls bei Hanna Kviatkovska und ihrer Familie angekommen: „Dank Herrn Schwesig hat sich unsere Welt total gedreht.“