Die Künstlerin Nina Nielebock vor ihrer Fotografie „Der Mann mit dem Goldhelm“ an einer Kelchstütze des Bahnhofs. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski

6000 Personen, so gut wie keine Frauen, arbeiten auf den Baustellen für Stuttgart 21. Die Öffentlichkeit weiß nur wenig über sie. Einem polnischen Polier wird nun stellvertretend ein Denkmal gesetzt – auf künstlerische Weise.

Stuttgart - Der Mann mit dem Goldhelm, ein Porträt aus dem Umkreis des niederländischen Malers Rembrandt van Rijn, ist für die Gemäldegalerie in Berlin das, was Mona Lisa für den Pariser Louvre ist – eine weltberühmte Attraktion. Nur halb aus dem Dunkel ragt das Gesicht eines älteren Herrn hervor, dessen Kopfschmuck umso heller leuchtet.

Im direkten Vergleich zu Gold hat der Mensch keine Chance, führt uns das klassische Werk in der Hauptstadt vor, der Mensch tritt in den Hintergrund. Nach Golde drängt, am Golde hängt nicht erst seit Goethe alles. In Stuttgart wird nun das Edelmetall überdimensional gerühmt. An einer Kelchstütze des Stuttgarter Hauptbahnhofs prangt der polnische Polier Stefan K. mit Goldhelm in einer Größe von acht Metern – gut sichtbar für alle, die über den Bahnhofssteg zu den Gleisen gehen und durch eines der Gucklöcher schauen.

Nach dem Vorbild aus Rembrandt-Zeiten

Die Künstlerin Nina Nielebock – sie ist Projektleiterin einer Studierendenklasse der Akademie der bildenden Künste Stuttgart, die den Hauptbahnhof auf Zeit erobern darf – hat einem der 6000 S-21-Bauarbeiter (500 davon sind in Stuttgart) stellvertretend einen Goldhelm aufgesetzt und ihn nach dem Vorbild aus Rembrandt-Zeiten fotografiert. Der Vergleich ist gut gewählt. Auch Bauarbeiter treten in der öffentlichen Wahrnehmung zurück, sie verschwinden weitgehend im Dunkel, weil die technischen Höchstleistungen des umstrittenen Milliardenprojekts wie Gold angepriesen werden.

Die Goldhelm-Kunst an der Kelchstütze ist eine von zwölf Installationen, die im Rahmen des Current-Festivals auf der gigantischen Bahnhofsbaustelle mit Gleisanschluss von diesem Donnerstag an bis zum bis 19. September zu sehen sind (es gibt spezielle Führungen dafür). Current (deutsch: Strömung) widmet sich in seiner ersten Ausgabe „dem Porösen in der Stadt“ und will mit Kunst im Stadtraum Überraschungen hervorrufen, neue Blicke auf das Alltägliche.

„Wir wurden mit offenen Armen empfangen“

„Porös“ ist der künftige tiefergelegte Hauptbahnhof, weil er sich noch im Aufbau befindet, noch nicht fertig fixiert ist für die Zukunft. Keiner weiß, ob bis 2025 wirklich alles fertig ist. Als die Akademie der bildenden Künste bei der Deutschen Bahn nachfragte, ob sie sich künstlerisch ausbreiten darf im Herzen eines „Jahrhundertwerks“, wurde sie „mit offenen Armen empfangen“, worüber sich Projektleiterin Nina Nielebock freut. Begegnungen mit Bauarbeitern, die für Außenstehende sonst nur aus der Ferne klein wie fleißige Ameisen zu sehen sind und in den Zeitungen mitunter mit unschönen Schlagzeilen zu Themen wie Lohndumping, Schwarzarbeit und Corona-Infizierung vorkommen, wurden ihr ermöglicht. Zwei fanden sich, die sich im Fotostudio der Kunstakademie mit Goldhelm abbilden ließen. „Es hat ihnen großen Spaß gemacht“, sagt sie.

Und für die junge Künstlerin war es ein Gewinn, Privates über Menschen zu erfahren, die von Stuttgart nicht viel mitbekommen, weil sie nur zum Geldverdienen hier sind und in der freien Zeit rasch in ihre Heimatländer fahren.

31 Mineralwasserkisten sind übereinander gestapelt

Die Stimmung bei den Bauarbeitern sei besser, als sie gedacht habe, berichtet Nina Nielebock beim Vorab-Rundgang am Mittwoch zu den Installationen unter ihrem roten (nicht goldenen) Helm. Was sie hier verdienen, wäre in ihrer Heimat kaum möglich, weshalb die Zufriedenheit nach ihrem Eindruck überwiegt. Unweit des Poliers mit dem Goldhelm befindet sich eine Säule aus 31 übereinander gestapelten Mineralwasserkisten, als „Oase 21“ von Bernd Mohr und dem Künstlerteam Super Vivac konzipiert. Weitere Installationen tragen Namen wie Stadtaufkleber, Zaunkönig oder „Stadt finden“. Urbane Kunst reizt dazu, Neues in der eigenen Stadt zu finden. Vielleicht entdeckt man goldene Seiten, von denen man bisher nichts ahnte – und hinterfragt sie sogleich.

Dreistündige Führungen zur Baustellenkunst finden am 12. September und 19. September jeweils um 10 Uhr und 14 Uhr statt. Eintritt: fünf Euro. Die Besucherinnen und Besucher müssen mindestens 14 Jahre alt sein und über „ein Mindestmaß an Beweglichkeit“ verfügen (keine Gehhilfen). Kurze Hosen sind nicht erlaubt. Treffpunkt: Gleis 16 am Eingang ITS. Anmeldung per Mail an: baustellenfuehrung@its-projekt.de sowie telefonisch unter 07 11 / 18 42 17 16.