Das Biegen der Vignolschienen erfolgt Zentimeter für Zentimeter und mit hohem Druck, sodass ein gleichmäßiger Radius entsteht. Foto: /Elke Hauptmann

Der Gleisbauhof der SSB hält die Schienen-Infrastruktur rund um die Uhr betriebsbereit.

Wangen - D as Schienennetz der Stuttgarter Straßenbahnen AG (SSB) umfasst aktuell insgesamt 270 Kilometer Gleislänge, 547 Weichen sowie 97 Kreuzungen. Und es wächst weiter: Zahlreiche Neubauprojekte sind in der Planung und sollen bis 2026 realisiert werden – unter anderem die Verlängerung der Stadtbahnlinie U11/U19 über die heutige Endhaltestelle Neckarpark hinaus zur Mercedes-Benz-Arena und zum Haupteingang der Daimler AG, der Bau der Trasse für eine neue U 17 zwischen Vaihingen und Flughafen sowie die Weiterführung der Linie U13 von Weilimdorf über Hausen nach Ditzingen.

58 Mitarbeiter

Die Gleise für neue Trassen, aber auch für Grunderneuerungen im Bestand stellt das kommunale Verkehrsunternehmen selbst her – im Gleisbauhof in Wangen. Der Standort im Industriegebiet am Rand des Stadtbezirks hat Tradition: Schon ab 1938 hatte die SSB das Areal als Gleislagerplatz von der Stadt gepachtet, seit 1950 ist das gut zwei Hektar große Grundstück im Viehwasen in ihrem Besitz. 58 Mitarbeiter sind in den beiden Dienststellen Oberbauwerkstatt und Technischer Fuhrpark beschäftigt. Sie sorgen rund um die Uhr dafür, „dass die Gleisanlagen stets betriebs- und verkehrssicher sind“, beschreibt Junes Baharvandi, der Gleisbauhofleiter, die vielfältigen Aufgaben mit einem Satz. Neben Neubau und Instandhaltung behebt die „schnelle Eingreiftruppe“ im Durchschnitt auch ein bis zwei Weichenstörungen pro Tag. „Hinzu kommen Störungen durch Dritte.“ Etwa durch Autos im Gleisbett und durch Vandalismus an Haltestellen oder an den Betriebsanlagen.

Vignolschienen überwiegen

Zu Hunderten stapeln sich die Schiene nstränge vor der großen Produktionshalle unter freiem Himmel – in unterschiedlichen Ausführungen. Die sogenannten Vignolschienen mit ihrem markanten Kopfprofil überwiegen. Kein Wunder: Sie machen etwa 93 Prozent des Stuttgarter Schienennetzes aus, weil die Stadtbahnen in der Landeshauptstadt ü berwiegend im eigenen Gleisbett fahren. In den Bereichen, wo sich Stadtbahn und Individualverkehr die Straße teilen müssen, werden Rillenschienen verlegt.

Hohe Belastung

Schon von weitem fällt die farbige Markierung auf. Rot stehe für härteren Stahl, Grün für den etwas weicheren, erläutert Thilo Mezger, der Meister der Oberbauwerkstatt. Dort, wo die Belastung durch die tonnenschweren Stadtbahnen besonders hoch sei – in den engen Bögen und an Steigungsstrecken zum Beispiel – würden große Härten benötigt. 2020 seien insgesamt 2135 Tonnen Stahlschienen eingebaut worden, berichtet Baharvandi. Die Menge variiere von Jahr zu Jahr, sie hänge von der Summe der einzelnen Bau- und Sanierungsmaßnahmen ab. In diesem Jahr seien beispielsweise 5,5 Kilometer Grunderneuerungen im Schienennetz geplant. Klingt nach wenig, bedeutet aber viel Aufwand: „Die Vorbereitung einer Grunderneuerungsmaßnahme beginnt bereits ein, zwei Jahre vor Baubeginn“, so der Leiter des Gleisbauhofs.

Viele Arbeitsschritte notwendig

Bevor ein Gleis überhaupt verlegt werden kann, sind viele Arbeitsschritte notwendig. Am Anfang der Produktion steht der Schienenteilungsplan. Dieser gibt genau vor, wie lang die Schiene sein und welche Krümmung sie aufweisen muss. Jede sei ein Unikat – und habe quasi einen eigenen Pass, sagt Mezger augenzwinkernd. „Hohenheimer Str.“ steht da beispielsweise auf einem Stück Stahl und dahinter eine lange Zahlenkombination. Der Schienenstrang hat da schon einige Bearbeitungsprozesse durchlaufen: Fräsen, Schneiden, Bohren, Biegen.

Muskelkraft gefragt

Obwohl viele Arbeitsschritte heutzutage Hightech-Maschinen erledigen, geht es im Gleisbau nicht ohne Muskelkraft, Geschick und Wissen. Das Verbinden von Schienenstößen etwa ist ein ziemlich komplexer Vorgang. Hier wird kein herkömmliches Schweißverfahren angewendet, sondern das sogenannte aluminothermische Gießschmelzschweißen. Dabei wird ein Pulvergemisch in flüssigen Stahl umgewandelt, mit dem die beiden Schienenelemente nahtlos miteinander verbunden werden. Viele Handgriffe sind dafür nötig. „Allrounder“ sind da gefragt. „Bei uns muss jeder alles können“, betont Mezger. „Als einer der wenigen Verkehrsbetriebe in Deutschland stellen wir zum Beispiel noch ein bis zwei Weichen pro Jahr selbst her, um das Know-how beizubehalten und um sicherzugehen, dass wir im Havariefall unverzüglich reagieren können.“

300 Tonnen Druck

Der Stierli-Bieger ist so etwas wie das Herzstück der Oberbauwerkstatt: Mittels eines ferngesteuerten Hallenkrans wird ein Schienenstrang auf Rollen gesetzt. Sobald der Rohling richtig positioniert ist, bringt das Schweizer Fabrikat den Stahl in mehreren Durchgängen in Form – mit einem Pressdruck von 300 Tonnen. Ob die Krümmung exakt ist, überprüfen die Gleisbauer wie schon zu Urzeiten: mittels einer Schnur und der Pfeilhöhenmessung. Das Verfahren hat sich laut Mezger gegenüber jeder modernen Technik bewährt. Die fertigen Schienen werden später mit dem SSB-Bauzug zum Einsatzort transportiert. Aber auch vormontierte Einheiten von Schienensträngen, an denen bereits in exaktem Abstand von 65 Zentimetern die Schwellen befestigt sind, werden in Wangen hergestellt. Denn vor allem im innerstädtischen Bereich sowie in Tunneln sei der Platzbedarf für die Montage vor Ort sehr eingeschränkt, erläutert Baharvandi. „Durch den schnellen Einbau von Gleisstücken reduziert sich die Bauzeit auf der Baustelle.“ Allein für die in diesem Jahr vorgesehenen Gleisgrunderneuerungen würden rund 8500 Betonschwellen benötigt.

Unebenheiten verursachen nicht nur Lärm

Das A und O für den Erhalt der Schieneninfrastruktur ist deren Pflege. Die Gleise werden durch das Eigengewicht der Stadtbahnen, Brems- und Beschleunigungsvorgänge, eine dichte Taktung, aber auch durch die Temperatur stark beansprucht. „Das wirkt sich teilweise negativ auf das Verschleißverhalten des Schienenmaterials aus“, sagt Baharvandi. „Je mehr Kräfte auf die Schienen einwirken, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich Schienenfehler bilden können.“ Und diese feinen Unebenheiten würden nicht nur Lärm verursachen. Werden sie nicht behandelt, könne das zur Ermüdung des Stahls und der Befestigungsmittel führen, so der Fachmann. Ziel der Schleifarbeiten sei es, „die Sollgeometrie des Schienenkopfes wiederherzustellen“. Die SSB verfolge eine präventive Schleifstrategie: „Das bedeutet, dass Schienen idealerweise geschliffen werden, bevor größere Schienenfehler auftreten.“

Minimaler Materialabtrag

Dafür verfügt das Verkehrsunternehmen über einen Schleifzug mit einem sogenannten Rutscherstein. Das Spezialfahrzeug ist montags bis freitags während der Betriebszeiten unterwegs und befreit die Schienen von Schmutz und kleinen Unreinheiten. „Hierbei entsteht lediglich ein minimaler Materialabtrag“, erläutert Baharvandi. In Kurven und auf Steigungsstrecken würden grundsätzlich mehr Schleifarbeiten anfallen als auf geraden Strecken. Die Wangener Gleisbauer haben den Anspruch, innerhalb einer Woche das gesamte Streckennetz der SSB zu schleifen. Um das zu schaffen, gibt es auch zwei externe Dienstleister, die mit der Aufgabe der „Reprofilierung“ von Schienen beauftragt sind. Diese verfügen über Fahrzeuge mit rotierenden Schleifscheiben, die mehr Material abtragen können als der SSB-Schleifzug. Eingesetzt werden sie das ganze Jahr über ausschließlich in der nächtlichen Betriebspause.

Viel Fingerspitzengefühl

An Weichen oder wenn ein kleinerer Bereich mal schnell ausgebessert werden muss, kommen zudem Handschleifgeräte zum Einsatz. Für das Funkensprühen haben die Männer kein Auge mehr, wohl aber für das Ergebnis: Der Stahl muss wieder glänzen und ein bestimmtes Muster aufweisen. Dafür braucht es viel Fingerspitzengefühl und Erfahrung – und zwischendurch wird zur Kontrolle immer wieder die Wasserwaage aufgesetzt. Dass die Schienen absolut waagrecht sind, ist unerlässlich, damit der Zug stabil und sicher fahren kann.

Auch für die Gleisreinigung, die Weichenwartung sowie den Winter- und Laubdienst stehen der SSB verschiedene Fahrzeuge zur Verfügung, ergänzt Fuhrparkchef Dervish Salihi. Der Schienenreinigungswagen zum Beispiel, mit dem Bremssand und Schmutz aus den Rillenschienen ausgesaugt wird. Auch ein Unimog mit Aufsetzaggregat zum Aussaugen oder Spülen von Kanälen und Schächten sowie ein Muldenkipper, mit dem Material- und Lagercontainer transportiert werden können, gehören zur Flotte.