So sieht’s an einem normalen Wochenende im Biergarten des Alternative-Clubs Goldmark’s aus. Ein bisschen Normalität würde jetzt nicht schaden. Foto: Setzer

Was auch immer die „Krawallnacht“ von Stuttgart befeuert haben mag, das Stuttgarter Nachtleben bleibt auf den Auswirkungen sitzen. Ein Spaziergang durch eine erhitzte Stadt, obwohl der Sommer noch gar nicht richtig angekommen ist.

Stuttgart - Ein Streifzug durch die Stuttgarter Innenstadt hat am ersten Wochenende nach den Ausschreitungen etwas von Katastrophentourismus. Mit dem kleinen Einwurf, dass es nicht mal ansatzweise Katastrophales zu begaffen gäbe. Zumindest nichts, das man nicht auch vor Wochen und Monaten so wahrgenommen hätte: Architektur, ¾-Hosen, Flipflops, Geschmackssachen und so weiter.

Die Scherben „der Nacht der Schande“ sind längst weggeräumt und auch das zerdellte Polizeifahrzeug, das als dramaturgischer PR-Kniff des Innenministeriums eigens noch mal in der Innenstadt geparkt wurde, ist längst weg. Innenminister Horst Seehofer (CSU) auch. Vereinzelt streunen noch Fernsehteams durch die Königstraße. Nicht sicher, ob die wirklich etwas wissen wollen oder vielleicht auch ein bisschen auf eine kleine Neuauflage des Krawalles warten.

„Debatte“ mit Schaum vor dem Mund

Der tobt jedoch wo ganz anders. Würde Stuttgart Hosen tragen: seit nunmehr zwei Wochen nestelt ganz Deutschland größtenteils ungefragt in den Hosentaschen der Stuttgarter. Wer wollte, durfte mal: Die Polizeigewerkschaften beklagen mangelnden Respekt, Jugendliche auch, andere brüllen etwas von „Terror“, „Bürgerkrieg“, „verrohter Jugend“ oder „Migration“, weil das sehr einfach ist. Und andere wetterten bar jeglicher Informationen und Vernunft über „vermummte Linksradikale“. Debatte, mit Schaum vor dem Mund.

Einige Stuttgarter wollten über die Arbeit der Polizei sprechen, wurden jedoch in einem Sturm der Entrüstung abgeschmettert, als könnten Fragen nach der Verhältnismäßigkeit der städtischen Polizeistrategie gegenüber Jugendlicher im Park diese Krawalle rückwirkend rechtfertigen. Aber es wird zumindest auch darüber gesprochen, wieder die mobile Jugendarbeit der Stadt zu intensivieren.

Nur Menschen, keine Theorien

Jetzt am Abend sind hier Menschen in der Innenstadt, keine Theorien oder Statistiken. Ins sonst übliche Klackern von Absätzen auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Neuen Schloss und dem Asphalt der Königstraße mischen sich nun vereinzelte Pferdehufe – berittene Polizei. Pferde kommen meist zum Einsatz, wenn die Menschen es besonders an Rationalität vermissen lassen.

Am Karlsplatz sammeln sich Einsatzfahrzeuge und ein paar Meter weiter am Eingang zur U-Bahnhaltestelle Charlottenplatz laufen mehr Männer als sonst mit hellgelben SSB-Sicherheitswesten Patrouille. Es liegt was in der Luft, egal was, gut riecht das nicht.

Biergarten in der Sicherheitszone

Mitten in dieser alarmbereiten Sicherheitszone liegt der Open-Air-Bereich de Alternative-Clubs Goldmark’s, ein Biergarten mit höchst urbanem Panorama, wenn man so will. Als dort am „Krawall-Wochenende“ Idioten versucht haben, einen Blumenkübel und Absperrgitter umzutreten, sie dienen als Gemarkungsanzeige des Biergartens, war das dem Goldmark’s-Team um Geschäftsführer Michael Brunner (43) außer genervtem Augenrollen kaum eine Regung wert.

Man kennt das hier, liegt der Biergarten nicht nur am Rande des Parks, in dem sich am Wochenende die Jugendlichen treffen, sondern eben auch in der Einlaufschneise des Stadtbahnknotenpunkts Charlottenplatz – hier werden Nacht für Nacht die Menschen ins Stuttgarter Nachtleben gespuckt und später wieder eingesaugt. Im Sommer besonders viele.

Kleinere Vorfälle gibt‘s hier seit Jahren immer wieder. „Auch zur Wasenzeit, wenn nebenan der Fischmarkt stattfindet oder nach Fußballspielen“, sagt Brunner. Man müsse dann eben wachsamer sein oder das Sicherheitspersonal aufstocken. Ohne geht’s nicht. Aufgeheizter als sonst sei die Stimmung an diesem „Scheißsamstag“ dennoch gewesen. Im Verlauf der Nacht, als die Einsatzkräfte an der Planie zusammengezogen wurden, lag das Goldmark’s mitten in diesem Szenario.

Eine haarsträubende Mischung

Zu den Gästen des Goldmark’s gehören die Jugendlichen im Park nicht. Viele der Leute, die sich zwischen Schlossplatz, Eckensee und Landtag treffen sind zu jung, manche zu betrunken oder zu aggressiv, um in die Clubs der Innenstadt reingelassen zu werden - und andere wollen überhaupt nicht rein.

Zu völlig unauffälligen Jugendlichen, die eben auch am Wochenende „in die Stadt gehen“ wollen, mischen sich gelegentlich auch Dienstleister der Drogenbeschaffung. Die Mischung ist haarsträubend, dennoch oder gerade deshalb kaum greifbar.

„Das ist nicht Baden-Württemberg, das ist nicht Stuttgart“, ließ Baden-Württembergs Innenminister Thomas Strobl (CDU) nach der ersten Sichtung der Krawalle verlauten. Doch die statistischen Details zur Beschaffenheit der Täter sprechen eine andere Sprache, als denen lieb ist, die mit ihr versuchen, Stimmung zu machen: 12 Ausländer, 9 Deutsche, 3 Deutsche mit Migrationshintergrund – das war die erste Analyse der als tatverdächtig Festgenommenen im Alter zwischen 16 und 33 Jahren. Doch sie repräsentieren ein nahezu stimmiges Abbild der Stuttgarter Bevölkerung in dieser Altersschicht. 69 Prozent sind Deutsch, 31 nicht (Stand 2019). Migrationshintergrund, Stand 2018: 51 Prozent.

Stuttgart steht noch

Auch das rechtfertigt nichts von dem, was in jener Samstagnacht in Stuttgart angerichtet wurde, dient es aber zumindest stückweit bei der Planung der innerstädtischen Zukunft. Und sei’s auch nur, um Abstand von nichtigen Kenngrößen wie Migrationshintergrund nehmen. Was da passiert ist, ist offensichtlich Stuttgart. Und dieses Stuttgart ist noch immer da, wenn die Katastrophentouristen längst wieder zu Hause sind. Die Jugendlichen werden ebenfalls noch da sein. Irgendwo muss man ja erwachsen werden.

Mehr Polizeikontrollen, härtere Strafen und ein Alkoholverbot für öffentliche Plätze, werden nun als politische Schnelllösung feilgeboten. „Law & Order“, als ob’s nichts davon bereits vorher gegeben hätte. Sogar von „rechtsfreien Räumen“ war viel zu hören. In Stuttgart.

Bloß nicht zynisch werden

Im Goldmark‘s sitzen zwei Väter erwachsener Kinder – gerade volljährig sind die Kleinen. „Die gehen nicht in die Innenstadt“, sagt der eine. Zu viele Idioten unterwegs. Die Kinder gehen auch nicht in die einschlägigen Clubs und Diskotheken, sondern treffen sich an Orten, die dafür eigentlich nicht vorgesehen sind. Spielplätze, Bahnstationen, Parks außerhalb der Innenstadt.

Auch diese Orte sind der Stuttgarter Polizei längst geläufig, man kennt sich. Ein Vater erzählt, dass die Kinder von zahlreichen Drogen- und Personenkontrollen berichten, mit „allem Drum und Dran.“

Die „Nacht der Schande“, die „Krawallnacht von Stuttgart“ – im Goldmark‘s wird auch darüber gewitzelt. „Braucht jemand ein neues Handy oder Turnschuhe?“, fragt einer. Das hat nichts mit Verharmlosung zu tun, sondern viel mehr mit zynischen Reaktionen auf die heraufbeschworene Katastrophen-Pornografie der vergangenen Tage.

„Neue Dimension“

VfB-Fans wissen beispielsweise nicht, was genau gemeint sein soll, wenn von „beispielloser Gewalt“ oder einer „neuen Dimension“ selbiger erzählt wird. Man erinnert sich schließlich auch an März 2015: Bundesliga, VfB Stuttgart - Hertha BSC, 0:0 auf dem Platz, Bad Cannstatt hat trotzdem verloren. „Entglast“ wurde Cannstatt, sagt einer. Hooligans, Krawallmacher oder wie man sie auch nennen möchte, greifen Polizeibeamte an, diese geben sogar Warnschüsse in die Luft ab.

„Man kann von Glück reden, dass so etwas nicht passiert ist. Wäre ja auch möglich gewesen“, sagt Michael Brunner. Und da ist auch ein bisschen Angst, dass die Krawallmacherei und Stress mit der Polizei, zu einer Art sportlichem Wettbewerb um seiner selbst Willen werden könnte.

Schlimmer geht schließlich immer, man weiß das. Was Stuttgart braucht ist das Gegenteil. Gut, wenn zumindest der Katastrophentourismus abebbt.