Die Stadt Stuttgart kann Tempo 30 bislang nicht einfach so anordnen. Denn die Straßenverkehrsordnung begrenzt den Spielraum der Kommunen. Auf der Heilbronner Straße in der Nähe vom Pragsattel darf auf der Brücke höchstens 30 gefahren werden, weil sie marode ist. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Die Landeshauptstadt soll sich einer Städteinitiative anschließen, die mehr Entscheidungsfreiheit vom Bund fordert. Lässt Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) das zu?

Stuttgart - Der Stuttgarter Gemeinderat entscheidet am Donnerstag über einen Mehrheitsantrag, der den Beitritt der Kommune zur Städteinitiative für Tempo 30 fordert. In der Debatte am Dienstag im Ausschuss für Stadtentwicklung versuchten OB Frank Nopper (CDU) und Ordnungsbürgermeister Clemens Maier (FW) den Antrag abzuwehren. Sie schlugen ein „Stadtgeschwindigkeitskonzept“ vor – und scheiterten.

Der Antrag

Ihr Ansinnen hatten Grüne, SPD, Linksbündnis und die Fraktion Puls bereits am 14. Juli 2021 vorgebracht. Nopper lehnte den geforderten Beitritt zur Städteinitiative in seiner schriftlichen Antragsbeantwortung ab. Die Initiative will vom Bund mehr Spielraum zugestanden haben. Städte sollen Tempo 30 ohne Einschränkung dort anordnen können, wo sie es für notwendig halten. Stuttgart solle sich laut Antrag als Modellkommune bewerben, falls der Bund die Voraussetzungen schafft. Am 22. Dezember stellten die Faktionen den Antrag erneut.

Die Rechtslage

In der Straßenverkehrsordnung (StVO) ist in Paragraf 3 innerhalb geschlossener Ortschaften eine Geschwindigkeit von 50 Kilometern pro Stunde für alle Kraftfahrzeuge festgelegt. Ausnahmen davon sind möglich. Zum Beispiel hat das Regierungspräsidium im Luftreinhalteplan Tempo 40 auf bestimmten Strecken in der Stadt verfügt. So soll die hohe Schadstoffbelastung gesenkt werden. Die Stadt hat in Wohngebieten in der Regel Tempo 30 angeordnet, laut OB Frank Nopper gilt das Limit auf 70 Prozent aller Straßen. Auf manchen Strecken, zum Beispiel im Schwabtunnel, lässt die StVO dies aber nicht zu.

Signal aus Berlin

Der neue Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) hat angedeutet, den Kommunen mehr Handlungsspielraum geben zu wollen. Sie wüssten am besten, was für ihre Bewohner gut sei. Von flächendeckend Tempo 30 sei er aber nicht überzeugt.

Noppers Argumente

Der OB sieht die „Bedeutung des Wirtschaftsstandortes“ gefährdet, wenn Stuttgart den Kurs in Richtung Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit einschlüge. Er erwarte dafür „keine breite Akzeptanz in der Bevölkerung“. Durch mehr kohlendioxidfreie Fahrzeuge habe die Geschwindigkeit beim Klimaschutz eine „abnehmende Bedeutung“. Die Wirkung aufs Klima sei sowieso nicht eindeutig, zitierte Nopper eine Untersuchung von 2012. Eine Optimierung des Verkehrsflusses bringe mehr. Er warnte, ein Beschluss für Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit sei ein „Einfallstor für flächendeckend Tempo 30“. Dem Linksbündnis warf Nopper einen „ideologischen Feldzug“ vor. Er schlägt die Erarbeitung eines „Stadtgeschwindigkeitskonzepts“ vor, ein „angemessenes Tempo“ für das Vorbehaltsstraßennetz (Hauptstraßen mit Bündelungsfunktion) solle geprüft werden. Die Verwaltung könne das Konzept erarbeiten, den Antrag damit aber nicht aufhalten, sagen dessen Befürworter.

Noppers Unterstützer Susanne Scherz von der städtischen Verkehrsbehörde argumentierte, bei Tempo 30 als Regel müsse man „viele Signalanlagen anpassen“, der Verkehrsfluss könne stocken, die SSB prüfen Fahrzeitverlängerungen für die Busse. Für Ordnungsbürgermeister Clemens Maier betreiben die Antragsteller „reine Symbolpolitik“, Tempo 30 sei nicht per se besser als 50, so Maier, der eine Abstimmung zunächst ablehnte, obwohl der Antrag auf der Tagesordnung stand. Dann ließ er sie zu, da sie „unverbindlich“ sei. Maier wollte wohl verhindern, dass Nopper bereits am Dienstag die Niederlage von 9 zu 7 Stimmen (einschließlich OB-Votum) einfährt. „Das nennt man Demokratie“, kommentierte SPD-Fraktionschef Martin Körner.

Bedenken und Ablehnung Christ- und Freie Demokraten, FDP und AfD lehnen den Vorstoß für Tempo 30 als Regelgeschwindigkeit ab. „Wir müssten künftig begründen, wenn wir 40 oder 50 wollen, das geht für mich nicht“, sagte Michael Schrade (FW). Michael Hans Mayer sprach für die AfD von „planwirtschaftlichem Vorgehen“ und „Bürokratieaufblähung“. Armin Serwani (FDP) befürchtet Schleichverkehr durch Wohngebiete und Mehrkosten, weil die SSB mehr Busse brauchen werden. „Wir glauben nicht, dass die Stadt durch Tempo 30 lebenswerter wird“, sagte Carl-Christian Vetter für die CDU. Wenn Tempo 30 flächendeckend komme, werde man „Verkehr dort haben, wo wir ihn nicht haben wollen“.

Die Befürworter Mit Tempo 30 als Regel woll man den bestehenden Flickenteppich verschiedener Tempi vereinheitlichen, der Verkehr solle „klimaverträglicher, effizienter und sicherer werden“, so Petra Rühle (Grüne). Und man wolle die Entscheidungshoheit. Der Rat habe bewiesen, dass er nicht populistisch vorgehe. „Sie bauen einen Popanz auf“, sagte Martin Körner zu Nopper. Es gehe nicht um flächendeckend und undifferenziert Tempo 30, aber um die Möglichkeit, zum Beispiel im Schwabtunnel, auf der Gablenberger Hauptstraße oder der Osterbronnstraße in Vaihingen. „Wo ist das Drama?“, fragte Körner.

„Unsere Städte sind nicht so gebaut, dass sie mit dieser Menge und Größe an Autos klarkommen“, sagte Luigi Pantisano für das Linksbündnis. Tempo 30 reduziere den Lärm, entlaste die Anwohner und bringe mehr Sicherheit. „Ich will Tempo 30 flächendeckend“, sagte Linksbündnis-Sprecher Hannes Rockenbauch – wohl wissend, dass er mit dieser Forderung nahezu allein steht. Der Oberbürgermeister wolle „die Dominanz des Autoverkehrs und seine zerstörerische Wirkung konservieren“, warf Christoph Ozasek (Puls) Nopper vor. Die Verwaltung schildere deshalb ein „Katastrophenszenario“. Tempo 30 als Regel sei ein „Gebot der Vernunft“, sagte Ozasek.