Seit Foto:  

Am Hölderlinplatz hat mit der „Raupe Immersatt“ Deutschlands erstes und einziges Foodsharing-Café seinen Sitz. Andere Städte könnten bald folgen.

Stuttgart -

Der junge Mann überlegt, während sein Blick über die große Tafel hinter dem Tresen wandert. Eine Auswahl unterschiedlicher Getränke ist darauf verzeichnet – allerdings ohne Preisangabe. Um die Ecke steht ein Kühlschrank. Kraut-, Salatköpfe und Karotten werden darin aufbewahrt, Backwaren lagern in einem eingebauten Schrank. Der junge Mann hat sich offenbar entschieden: „Machst Du mir bitte einen doppelten Espresso und einen Cappuccino mit Hafermilch?“ Die Servicekraft nickt. Dann stellt auch sie eine Frage: „Wie viel möchtest Du bezahlen?“ Spätestens jetzt ist klar, dass es sich bei der „Raupe Immersatt“ nicht um einen herkömmlichen Gastronomiebetrieb handelt. Dass die Gäste selbst entscheiden, wie viel ihnen ein Getränk wert ist, ist aber nur ein Teil des Konzepts. Was den Initiatoren des im Stuttgarter Westen gelegenen Cafés weitaus wichtiger ist: Hier finden Lebensmittel, die sonst in Mülltonnen landen, einen Weg zu den Besuchern. Denn es handelt sich um das bundesweit erste und einzige Foodsharing-Café. Noch. Das Konzept des gemeinnützigen Vereins wird bereits in anderen Städten „kopiert“. Dazu gehören Freiburg und Freising ebenso wie Landau, zählt Katrin Scherer auf.

Seit vergangenem Winter gehört die studierte Kommunikationswissenschaftlerin dem Vorstand des Stuttgarter Vereins an. Dessen Anfänge reichen jedoch noch weiter zurück. 2017 beschließen fünf Studenten, die der Regionalgruppe des Netzwerks Foodsharing angehören, das Thema Lebensmittelverschwendung mehr in die Öffentlichkeit tragen zu wollen. Weil im Übermaß eingekauft, zu früh wegschmeißen oder falsch gelagert wird, landen jedes Jahr bundesweit rund 13 Millionen Tonnen Essensreste im Müll.

Das muss weniger werden, sind die fünf überzeugt. Ihre Idee ist ein Café, in dem überschüssiges Essen mit anderen geteilt wird und Besucher auf die gemeinsame Verantwortung für Lebensmittel hingewiesen werden. „Allerdings nicht mit dem erhobenen Zeigefinger. Es soll hier keiner belehrt werden“, betont Scherer. Mit Hilfe eines Crowdfunding-Aufrufs kommen mehr als 26 000 Euro Startkapital zusammen. Trotzdem dauert die Umsetzung länger als erwartet. Kaum eine Immobilie eignet sich für das Vorhaben – bis es 2019 doch noch zum Abschluss eines Mietvertrages kommt: Am Hölderlinplatz eröffnet im Juni die „Raupe Immersatt“.

Das Konzept stößt vom ersten Tag an auf positiven Widerhall, die Gäste kommen. Die meisten Lebensmittel stammen von Kooperationsbetrieben der Initiative Foodsharing. Privatleute bringen ab und an Nahrungsmittel aus ihrem Kühlschrank vorbei, bevor sie in den Urlaub fahren. Und auch Lebensmittelbetriebe, Bäckereien und Cafés in den umliegenden Straßen bringen regelmäßig ihre Überschüsse vorbei. Auf der kleinen Bühne treten Künstler und Musiker auf, es werden Filmabende oder Vorträge organisiert. „Bis uns der Lockdown einen Strich durch die Rechnung gemacht hat“, sagt Scherer. Aber auch in dieser Zeit bleibt das Team nicht untätig: Getränke-to-Go werden angeboten. An den Wochenenden verteilt das Team gekochte Mahlzeiten mit dem Lastenrad an bedürftige Menschen und organisiert im Schaufenster Kunst- und Kulturprojekte.

Seit einigen Wochen ist das Bild am Hölderlinplatz jedoch wieder ein anderes: Gäste aller Altersgruppen unterhalten sich im Freien unter den roten Sonnenschirmen angeregt miteinander, während sie Kaffee trinken – und dazu nicht selten ein „gerettetes“, kostenloses Croissant genießen.